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69. Die Plastik der italienischen Frührenaissance.
Wilhelm Bode,
Die italienische Plastik. Berlin 1893. S. 34, S. 46 ff.
Die Kunst der „Renaissance", die Wiedergeburt der antiken, der klassischen Kunst
— wie schon die Künstler des XV. Jahrhunderts mit Bewußtsein und Stolz ihre Kunst
bezeichneten — zeigt sich auf keinem andern Gebiet in so scharfem Gegensatze zu der
vorausgehenden Zeit wie in der Plastik. Die Rückkehr zu den antiken Formen in der
Dekoration hat sie mit der Architektur gemein; wie diese betrachtet sie die Antike, die
Überreste der rönlischen Kunst, als ihre unübertroffene Lehrmeisterin, entlehnt sie derselben
zahlreiche Motive und Gestalten. Aber während die Architektur des Quattrocento in
ihren Grundformen, in den Verhältnissen und technischen Hilfsmitteln auf den großen
Errungenschaften des Trecento nur weiterbaute, tritt die gleichzeitige Plastik in einen viel
größeren Gegensatz zu ihrer Vorgängerin, welche bei aller Lebendigkeit noch der natura¬
listischen Durchbildung ermangelt hatte. Sie befolgt den obersten Grundsatz der Wirklichkeit:
volle Naturwahrheit und schärfste Charakteristik im Motiv wie in der Durchbildung der
einzelnen Gestalt bis in die kleinsten Einzelheiten. Die menschliche Figur in der vollen
Wirklichkeit ihrer Erscheinung: individuell in Kopf und Gestalt, eigenartig in Haltung
und Bewegung wie in der Tracht bleibt das vornehmste Ziel der Bildhauer durch das
ganze XV. Jahrhundert. Diese Aufgabe verfolgen sie mit einer Begeisterung und Über¬
zeugung, mit einem Ernst und oft mit einer Einseitigkeit, die vor Übertreibung nicht
zurückschreckt; aber ein glücklicher Takt, Naivität und angeborener Schönheitssinn bilden
die natürlichen Schranken, in denen sich jenes Streben trotz seiner Kraft und Einseitigkeit
in einer so mannigfaltigen, so eigentümlich reizvollen Weise entfalten konnte wie inner¬
halb der Plastik zu keiner andern Zeit nach der Blüte der attischen Kunst. . .
In der Art der plastischen Darstellung bringt das Quattrocento die völlige Be¬
freiung und stilvolle Ausbildung der verschiedenen Gattungen, welche das Trecento nur
teilweise und vernrischt gekannt hatte. Die Freifigur in ihrer vollen naturalistischen
Durchbildung wird schon im ersten Jahrzehnt des XV. Jahrhunderts namentlich durch
Donatello eine der wichtigsten Aufgaben der Plastik. Sie wird jetzt meist schon mit
Rücksicht auf den Platz ihrer Aufstellung gebildet, sowohl der stilistischen Rücksicht auf
das Bauwerk wie nicht selten auch der perspektivischen Rücksicht auf den Standpunkt des
Beschauers. Selbst vor der Zusammenordnung verschiedener Figuren zur Gruppe scheut
die Zeit nicht zurück. Die vier Heiligen des Nanni di Banco in einer der Nischen von
Or San Michele in Florenz sind zwar noch zufällig nebeneinandergestellte Freifiguren,
aber Donatellos Bronzegruppe der Judith über dem Leichnam des Holofernes, die Gruppen
der Begegnung Mariä mit Elisabeth von Andrea della Robbia in Pistoja und die Be¬
grüßung der Heiligen Franz und Dominikus von demselben Künstler unter der Halle auf
der Piazza San Maria Novella, sowie Verrocchios „Christus und Thomas" an Or San
Michele in Florenz entsprechen in Komposition, Bewegung und Ausdruck als Gruppe wie
in den Einzelfiguren den höchsten künstlerischen Anforderungen.
Die plastische Darstellung des Porträts, im XIV. Jahrhundert fast ganz zurück¬
gedrängt, erhält im XV. Jahrhundert infolge der bis zum rücksichtslosesten Egoismus
ausgebildeten Individualität und der Ruhmsucht der Zeit eine hervorragende Bedeutung;
jedoch fast ausschließlich als Büste oder als Reliefporträt. Die Porträtstatue fehlt fast
ganz; einzelne Statuen auf Dogengräbern ausgenommen, begnügte man sich damit,