Full text: Prosa aus Religion, Wissenschaft und Kunst (Band 2, [Schülerband])

9 
das Hochgefühl gefunden, das über die Welt erhebt und den Menschen zu einem anderen 
macht, während die Theologen vor ihm geträumt hatten, der Mensch müsse ein anderes 
werden, um selig sein zu können, oder sich mit Tugendstreben begnügten. Er trennte die 
Natur und die Gnade, band aber die Religion und die Sittlichkeit zusammen und gab 
der Idee des Guten einen neuen Inhalt. Er zerstörte das Wahnbild der antiken popu¬ 
lären Psychologie und Moral; er gab dem Intellektualismus und Optimismus des Altertums 
den Abschied; aber er ließ jenen wieder aufleben in dem frommen Denken des Mannes, 
der in dem lebendigen Gott das wahre Sein gefunden hat, und indem er den christlichen 
Pessimismus vollendete, überbot er ihn zugleich durch die Gewißheit der Gnade. Vor 
allem aber: er hielt jeder Seele ihre Herrlichkeit und ihre Verantwortlichkeit vor, Gott 
und die Seele, die Seele und ihr Gott. Er führte die Religion aus der Gemeinde- und 
Kultusform in die Herzen als Gabe und Aufgabe hinein. Liebe, ungefärbte Demut und 
Kraft zur Überwindung der Welt — das sind die Elemente der Religion und ihre 
Seligkeit; sie quellen aus dem Besitz des lebendigen Gottes. „Wohl den Menschen, die 
dich für ihre Stärke halten, die von Herzen dir nachwandeln." Dies Wort hat 
Augustin der Christenheit seiner Zeit und aller Zeiten gepredigt. 
Die voraugustinische Frömmigkeit war ein Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung. 
Sie lebte nicht im Glauben. Wissen und Tun des Guten macht selig, lehrte sie, nachdem 
man in der Taufe Vergebung der vergangenen Sünden empfangen hat; aber man empfand 
die Seligkeit nicht. Weder die Taufe noch die Askese befreiten von der Furcht; man 
fühlte sich nicht stark genug, auf die eigene Tugend zu vertrauen, und man fühlte sich 
nicht schuldig und gläubig genug, um sich der Gnade Gottes in Christus zu getrösten. 
Furcht und Hoffnung blieben wach; es waren ungeheure Kräfte. Sie haben die Welt 
erschüttert und die Kirche gebaut; aber ein seliges Leben vermochten sie dem einzelnen 
nicht zu schaffen. Augustin drang von den Sünden zur Sünde und Schuld, von der 
Taufe zu der Gnade vor. Die Ausschließlichkeit und Festigkeit, mit der er den schuldigen 
Menschen und den lebendigen Gott auf einander bezog, ist das Neue, das ihn vor allen 
seinen Vorgängern auszeichnet. „An dir allein habe ich gesündigt" — „Du, Herr, hast 
uns auf dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir". 
— Das ist der gewaltige Akkord, den er aus der Heiligen Schrift, aus den tiefsten 
Betrachtungen des menschlichen Wesens und aus der Spekulation über die ersten und 
letzten Dinge herausgehört hat. An dem Geiste, der Gottes ledig ist, ist alles eitel 
Sünde; nur daß er ist, ist noch gut an ihm. Die Sünde ist die Sphäre und die 
Form des inneren Lebens jedes natürlichen Menschen. Ferner, alle Sünde ist Sünde 
an Gott; denn der geschaffene Geist hat nur ein dauerndes Verhältnis, nämlich zu Gott. 
Die Sünde ist das Selbst-sein-wollen (superbia.); darum ist ihre Form die Begierde und 
Unruhe. In der Unruhe offenbart sich die niemals gestillte Lust und die Furcht. Diese 
ist das Böse, jene ist als Streben nach Gütern (Seligkeit) gut, aber als Streben nach 
vergänglichen Gütern böse. Wir müssen streben, glücklich zu sein — dieses Streben ist 
das uns von Gott geschenkte, unverlierbare Leben — aber es gibt nur ein Gut, eine 
Seligkeit und eine Ruhe: „Mihi adhaerere deo bonum est“ [an Gott zu hängen ist 
mein Guts. Nur im Elemente Gottes lebt und ruht die Seele. Aber der Gott, der uns 
erschaffen hat, hat uns erlöst. Durch Gnade und Liebe, die in Christus offenbar geworden, 
ruft er uns aus der Zerstreuung zu sich zurück, macht „ex nolentibus volentes" [aus 
Nichtwollenden Wollendes und gibt uns so ein unbegreiflich neues Wesen, das in Glaube 
und Liebe besteht. Diese stammen von Gott; sie sind das Mittel, durch das der lebendige 
Gott sich uns zu eigen gibt. Der Glaube aber ist Glaube an die „gratia gratis data"
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.