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das Hochgefühl gefunden, das über die Welt erhebt und den Menschen zu einem anderen
macht, während die Theologen vor ihm geträumt hatten, der Mensch müsse ein anderes
werden, um selig sein zu können, oder sich mit Tugendstreben begnügten. Er trennte die
Natur und die Gnade, band aber die Religion und die Sittlichkeit zusammen und gab
der Idee des Guten einen neuen Inhalt. Er zerstörte das Wahnbild der antiken popu¬
lären Psychologie und Moral; er gab dem Intellektualismus und Optimismus des Altertums
den Abschied; aber er ließ jenen wieder aufleben in dem frommen Denken des Mannes,
der in dem lebendigen Gott das wahre Sein gefunden hat, und indem er den christlichen
Pessimismus vollendete, überbot er ihn zugleich durch die Gewißheit der Gnade. Vor
allem aber: er hielt jeder Seele ihre Herrlichkeit und ihre Verantwortlichkeit vor, Gott
und die Seele, die Seele und ihr Gott. Er führte die Religion aus der Gemeinde- und
Kultusform in die Herzen als Gabe und Aufgabe hinein. Liebe, ungefärbte Demut und
Kraft zur Überwindung der Welt — das sind die Elemente der Religion und ihre
Seligkeit; sie quellen aus dem Besitz des lebendigen Gottes. „Wohl den Menschen, die
dich für ihre Stärke halten, die von Herzen dir nachwandeln." Dies Wort hat
Augustin der Christenheit seiner Zeit und aller Zeiten gepredigt.
Die voraugustinische Frömmigkeit war ein Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung.
Sie lebte nicht im Glauben. Wissen und Tun des Guten macht selig, lehrte sie, nachdem
man in der Taufe Vergebung der vergangenen Sünden empfangen hat; aber man empfand
die Seligkeit nicht. Weder die Taufe noch die Askese befreiten von der Furcht; man
fühlte sich nicht stark genug, auf die eigene Tugend zu vertrauen, und man fühlte sich
nicht schuldig und gläubig genug, um sich der Gnade Gottes in Christus zu getrösten.
Furcht und Hoffnung blieben wach; es waren ungeheure Kräfte. Sie haben die Welt
erschüttert und die Kirche gebaut; aber ein seliges Leben vermochten sie dem einzelnen
nicht zu schaffen. Augustin drang von den Sünden zur Sünde und Schuld, von der
Taufe zu der Gnade vor. Die Ausschließlichkeit und Festigkeit, mit der er den schuldigen
Menschen und den lebendigen Gott auf einander bezog, ist das Neue, das ihn vor allen
seinen Vorgängern auszeichnet. „An dir allein habe ich gesündigt" — „Du, Herr, hast
uns auf dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir".
— Das ist der gewaltige Akkord, den er aus der Heiligen Schrift, aus den tiefsten
Betrachtungen des menschlichen Wesens und aus der Spekulation über die ersten und
letzten Dinge herausgehört hat. An dem Geiste, der Gottes ledig ist, ist alles eitel
Sünde; nur daß er ist, ist noch gut an ihm. Die Sünde ist die Sphäre und die
Form des inneren Lebens jedes natürlichen Menschen. Ferner, alle Sünde ist Sünde
an Gott; denn der geschaffene Geist hat nur ein dauerndes Verhältnis, nämlich zu Gott.
Die Sünde ist das Selbst-sein-wollen (superbia.); darum ist ihre Form die Begierde und
Unruhe. In der Unruhe offenbart sich die niemals gestillte Lust und die Furcht. Diese
ist das Böse, jene ist als Streben nach Gütern (Seligkeit) gut, aber als Streben nach
vergänglichen Gütern böse. Wir müssen streben, glücklich zu sein — dieses Streben ist
das uns von Gott geschenkte, unverlierbare Leben — aber es gibt nur ein Gut, eine
Seligkeit und eine Ruhe: „Mihi adhaerere deo bonum est“ [an Gott zu hängen ist
mein Guts. Nur im Elemente Gottes lebt und ruht die Seele. Aber der Gott, der uns
erschaffen hat, hat uns erlöst. Durch Gnade und Liebe, die in Christus offenbar geworden,
ruft er uns aus der Zerstreuung zu sich zurück, macht „ex nolentibus volentes" [aus
Nichtwollenden Wollendes und gibt uns so ein unbegreiflich neues Wesen, das in Glaube
und Liebe besteht. Diese stammen von Gott; sie sind das Mittel, durch das der lebendige
Gott sich uns zu eigen gibt. Der Glaube aber ist Glaube an die „gratia gratis data"