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sGnade umsonst gegebenj, und die Liebe ist die Lust an Gott, vereinigt mit der Demut,
die aus alles eigene verzichtet. Als ein immerwährendes Geschenk und als ein heiliges
Geheimnis betrachtet die Seele diese Güter, in denen sie alles erlangt, was Gott verlangt;
ein mit Glaube und Liebe ausgerüstetes Herz erhält die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt,
und besitzt den Frieden, der über die Unruhe und Furcht erhebt. Es kann zwar keinen
Moment vergessen, daß es noch in Welt und Sünde verstrickt ist, aber es denkt mit der
Sünde stets die Gnade zusammen. Durch Glaube, Demut und Liebe überwundenes
Sündenelend — das ist die christliche Frömmigkeit. In der Fülle der Glaubensgedanken,
die sich hier ergeben, ruht die Seele aus und strebt doch unhaltsam vorwärts.
In dieser Weise zu empfinden und zu denken hat sich die Religion tiefer erschlossen,
und der augustinische Typus der Frömmigkeit ist im Abendland bis zur Reformation,
ja bis heute noch maßgebend; aber ein quietistisches, fast möchte man sagen, narkotisches
Element ist in ihm verborgen, das wir in dem Evangelium nicht finden.
In dem Vorstehenden ist Augustins Frömmigkeit nur einseitig bestimmt. Er war
auch in seiner Frömmigkeit katholischer Christ, ja erst er hat jenes Ineinander von
freiester eigenster Hingabe an das Göttliche und stetiger gehorsamer Unterordnung unter
die Kirche als Gnadenmittelanstalt geschaffen, das den abendländischen Katholizismus
charakterisiert.
Der Verfasser weist das nun im einzelnen nach; er fährt dann fort:
Augustins Theologie ist aus dieser Art seiner Frömmigkeit zu verstehen. Seine
religiösen Theorien sind z. T. nichts anderes als theoretisch gedeutete Stimmungen und
Erfahrungen. Aber in ihnen sammelten sich zugleich die mannigfaltigen religiösen Er¬
fahrungen und sittlichen Reflexionen der alten Welt: Die Psalmen und Paulus, Plato
und die Neuplatoniker, die Moralisten, Tertullian und Ambrosius — man findet alles
in Augustin wieder.
4. Weltverneinung und Weltbeherrschnng der mittelalterlichen Kirche.
Heinrich von Eicken,
Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung. Stuttgart 1887. S. 7O sf.
Der religiöse Geist des Mittelalters verneinte grundsätzlich alle weltliche Kultur,
um an ihre Stelle die göttlichen Ordnungen der kirchlichen Hierarchie zu setzen. Die
Kirche war ihrer Idee nach nicht, wie sie im unklaren über ihre eigenen Ziele wohl
behauptete, die Stütze der weltlichen Bildung und der staatlichen Rechtsordnungen, sondern
vielmehr die grundsätzliche Feindin derselben. Staat und Familie, weltliche Kunst und
Wissenschaft hatten nur insoweit Bestand, als sie sich von der religiösen Idee der Kirche
freizuhalten vermochten. Die Auflösung der bestehenden weltlichen Ordnungen und die
Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbilde des idealen Gottesstaates war der sich
gleichmäßig auf allen Gebieten wiederholende Grundzug der mittelalterlichen Kultur.
Die letztere baute sich zu einem großartigen, alle Verhältnisse umspannenden System auf,
dessen Grundgedanke, die Idee der christlichen Erlösung, bis in die kleinsten Beziehungen
des inenschlichen Lebens durchgeführt wurde. Aus diesem Gedanken heraus waren alle
Verhältnisse des Mittelalters gestaltet. Das gesamte Gebiet der Kultur wurde in ein
irdisches Gottesreich, in eine Allegorie des himmlischen Gottesreiches umgewandelt. Die
Ausarbeitung dieser transzendenten Weltallegorie war der leitende Gedanke, die Idee der