Full text: Prosa aus Religion, Wissenschaft und Kunst (Band 2, [Schülerband])

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gelehrte Selbstverleugnung betätigen zu müssen glaubten. Mit dem Erwerb von Reichtum 
und Macht ging aber auch die ursprüngliche asketische Zucht verloren. Jede Ordens¬ 
stiftung trug wie das Kultursystem des Mittelalters überhaupt seine eigene Widerlegung 
in sich. Auch die geistlichen Ritterorden, welche die Vorkämpfer der Christenheit gegen 
die Ungläubigen und berufensten Träger der kirchlichen Eroberungspolitik waren, verloren 
eben durch die Ausübung ihres Berufes mehr und mehr ihren geistlichen Charakter, 
indem sie ihre eigene politische, wirtschaftliche und militärische Machtstellung zum Mittel¬ 
punkt ihrer Tätigkeit machten. So erging es dem Johanniterorden und in noch größerem 
Maße dem Orden der Tempelherrn. Die religiösen Zwecke wurden den Ritterorden 
ebenso wie den Mönchsorden zur Ursache eines reichen Güter- und Machterwerbs. Der 
außerordentliche Umfang dieses Besitzes zwang dieselben aber zur Befolgung einer den 
letzteren in erster Linie berücksichtigenden Politik, also zur Entfremdung von der Kirche 
und ihren ursprünglichen Zwecken. 
Von der Kirche selbst führte demnach kein Weg aus diesem Zirkel heraus, so sehr 
sie sich auch von Zeit zu Zeit um eine sittliche Reform des Klerus bemühte. Nur von 
außen heraus also ließ sich der Zirkel des kirchlichen Systems lösen. Dieser von außen 
eingreifende Widerspruch wurde allerdings durch die Kirche selber ins Leben gerufen und 
zwar durch die weltlichen Machtzwecke derselben, welche auf allen Gebieten einen ziemlich 
gleichmäßigen Widerstand der weltlichen Interessen veranlaßten. Doch entwickelte sich 
derselbe nur allmählich zu einer grundsätzlichen Verneinung der Kirche. Zunächst richtete 
sich derselbe keineswegs gegen die theoretische Grundlage der kirchlichen Politik. Vielmehr 
wurde die religiöse Lehre der Kirche sowie die Lehre der letzteren als einer von Gott gestifteten 
Vermittlungsanstalt nicht im mindesten in Zweifel gezogen. Der gegen die weltlichen 
Bestrebungen der Kirche gerichtete Widerstand entbehrte deshalb zunächst eigentlich jeder 
logischen Begründung. Derselbe war vielmehr lediglich empirischer Natur und nur durch 
den Zwang der praktischen Verhältnisse veranlaßt. Das Schwergewicht der irdischen 
Lebensbedingungen war zu groß, als daß es hätte überwunden werden können. Aus 
allen Gebieten sah sich die Kirche zur Nachgiebigkeit gegen die Mächte des weltlichen 
Lebens gezwungen. Nirgends war das Mittelalter in der Lage, das System seiner 
transzendenten Weltanschauung bis zu seinen letzten logischen Folgerungen zu behaupten. 
Es mußte den weltlichen Staat, die Ehe, die gesellschaftlichen Stände, den wirtschaftlichen 
Güterbesitz, die staatliche Jurisdiktion, das wissenschaftliche Studium weltlicher Gegen¬ 
stände, die weltliche Liebes- und Heldendichtung bestehen lassen, obwohl die Logik seines 
Systems die völlige Beseitigung derselben forderte. Allerdings stand die Kirche in diesen 
Zugeständnissen keineswegs von dem Streben nach einer vollen Ausführung ihres Gottes- 
staates ab. Vielmehr hielt sie auf allen Gebieten die absolute Verneinung der Welt¬ 
lichkeit und die völlige Auflösung derselben in das System des Gottesstaates als das 
ideale Ziel fest und behandelte sie alle ihre Zugeständnisse nur als die dem Zwange der 
Verhältnisse entsprechend bemessenen Mittel zur Erfüllung ihrer letzten Zwecke. Doch 
wurde der Ausbau des Systems über diesen Zustand niemals hinausgeführt. Die Kirche 
hat sogar um den Gewinn und die Behauptung dieses eingeschränkten Machtbesitzes un¬ 
ausgesetzt kämpfen müssen. Die weltlichen Mächte begnügten sich keineswegs mit den ihnen 
von der Kirche belassenen Gebieten. In der Theorie erkannten sie die Grenzbestimmungen 
der Kirche zwar an, in der Praxis aber gingen sie weit über dieselben hinaus und be¬ 
haupteten ihre Interessen dem Einspruch der Kirche zum Trotz. 
Der stete Widerstreit mit sich selber, der Widerstreit der transzendenten Idee des 
religiösen Glaubens und der Existenzbedingungen des irdischen Lebens bildete das
	        
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