fullscreen: Erdkundliches Lesebuch für die Oberstufe höherer Lehranstalten und Seminare

8. Die Grafschaft Glatz. 
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empor; meist sind die Spalteil und Einschnitte mit Bäumen und Gebüsch dicht be- 
wachsen; ihre Zahl beläuft sich auf mehrere Tausende. Die Wunder des im wört- 
lichen Sinne zugeschlossenen Labyrinths, das ein silberklarer Bach durchfließt, kün- 
digen als Vorposten zwei Felsen an, von denen der eine, eine Art von roher Bild- 
säule eines Knienden darstellend, der betende Mönch, der andere wegen seiner kegel- 
förmigen Gestalt, die nach oben breiter wird, der „umgekehrte Zuckerhut" genannt 
wird. Noch großartiger in ihren Naturgebilden sind die Felsen von Weckelsdorf, 
die erst im Jahre 1824 ein größerer Waldbrand vollständig freilegte; ihr Glanzpunkt 
ist der sogenannte Dom, eine hohe Felsschlucht, deren Gewölbe eine gewisse Ähn- 
lichkeit mit gotischen Spitzbogen zeigen. Andere Naturwunder bietet der Gebirgszug 
in der Nähe, die unter dem Namen der „versteinerte Wald" von Radowentz bekannt 
sind. An manchen Punkten übersieht man mit einem Blicke mehr als hunderttausend 
Kilogramm versteiuerteu Holzes, sast immer entrindete Stämme von Nadelhölzern 
bis zu 1 rn Dicke und 2 m Länge: so großartige Lager, wie sie im Gebiete der Stein- 
kohlensormation bis jetzt weder in Europa noch in einem anderen Erdteile beob- 
achtet sind. 
Man kann sich denken, welchen Reichtum an wirklich malerischen Aussichten die 
eigentümliche Kreuzstellung der Glatzer Täler herbeiführt, wie die Gebirgsglieder 
zwischen ihnen mit jedem Wechsel des Standpunktes in immer neuen Verschiebungen, 
Freilegungen uud Bedeckungen gleich künstlich bewegten Kulissen sich zu anderen 
und aber anderen Bildern gesellig aufreihen. Tie geringe Ausdehnung der Land- 
schast, in der Länge kaum 80, der Breite nach höchstens 40 km, erlaubt überdies 
stets das Ganze ins Auge zu fassen, wobei zugleich die verschiedenen Größen der 
beiden Achsen jedesmal zahlreiche Grade der Fernblicke nebeneinander hinzeichnen. 
Während im Süden das gewaltige Rundhaupt des mit dem Kaiser-Wilhelm-Turm 
gezierten Schneebergs bis zu 1426 m emporsteigt, ziehen im Norden nur halb so hoch 
die wagerechten Linien des Sandsteinplateaus entlang. Vom baumlosen Scheitel 
des erstereu, wo in einer Grenzsäule die drei Lande Böhmen, Mähren und Glatz 
einander berühren, stellt sich gegen Südost der ernste Altvater dar in thronender 
Herrschaft über dem Gesenke seiner Genossen; ein Rundgang von wenigen Schritten 
enthüllt das Waldversteck der Quellflüsse, die mit dumpf murmelndem Lebewohl 
den Scheideweg einschlagen zur Ostsee, zur Nordsee und zum Schwarzen Meere. 
Vom Großvaterstuhl, der höchsten Klippe der Heuscheuer, mit ihren meist senkrecht 
zerklüfteten, schwarzgrauen Felsen, streift der Blick über die Engpässe von Nachod 
und Trantenan hinweg die einander ablösenden Ketten der Lausitzer-, Jser-, Riesen- 
und Waldbnrger Gebirge; den Vordergrund füllen im Norden die zopfigen Gebilde 
des Sandsteinflözes von den Adersbacher Steinen an. Aber hier wie dort kehrt 
das Auge wieder und wieder in die umfriedigte Welt der inneren Grafschaft zurück, 
um sich an dem heiteren Wechselspiel dieser doch so streng verbundenen Landschasts- 
bilder unaufhörlich zu erquicken. In dieser Mischung von gehaltener Ordnung und 
entbuudener Kraft, von Einheit und Freiheit hat die Grafschaft Glatz im ganzen 
Bereich der deutschen Mittelgebirge nirgend ihresgleichen. Die Verbinduugm dieser 
Bergreihen bringen Verhältnisse hervor auf dem Äußeren des eingeschlossenen Landes, 
denen nur, wie Leopold von Buch sagt, „ein griechischer Himmel fehlt, um die Be- 
wohner glauben zu machen, eine besondere Welt sei für sie da. Mögen doch Feen- 
romane ihre Phantasie aufbieten, eine Gegend bezaubernd und reizend zu schildern, 
sie werden ihre Dichtungen hier als Wirklichkeit finden. Die Natur scheint sich ans 
der Erde Plätze bestimmt zu haben, die sie mit allem Reichtum versorgte, den ihre 
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 5
	        
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