II. Milosophie.
9. Die Sittenlehre -es Aristoteles.
Eduard Zeller,
Grundriß der Geschichte der griechischen Philosophie3. Leipzig 1889. S. 180 ff.
Der Zweck aller menschlichen Tätigkeit ist im allgemeinen (wie dies kein griechischer
Ethiker bezweifelt) die Glückseligkeit; denn sie allein ist das, was um keines anderen,
sondern lediglich um seiner selbst willen begehrt wird. Aber den Maßstab, nach dein
die Bedingungen der Glückseligkeit bestimmt werden, entnimmt Aristoteles nicht dem sub¬
jektiven Gefühl, sondern dem objektiven Charakter der Lebenstätigkeiten: die „Eudämonie"
besteht in der Schönheit und Vollkommenheit des Daseins als solchen, der Genuß, welcher
dem einzelnen aus dieser Vollkommenheit erwächst, ist nur eine Folge derselben, aber
weder ihr letzter Zweck noch der Grund und das Maß ihres Wertes. Wie für jedes
lebende Wesen das Gute in der Vollkommenheit seiner Tätigkeit besteht, so kann es auch
für den Menschen, wie Aristoteles ausführt, nur in der Vollkommenheit der eigentümlich
menschlichen Tätigkeit bestehen. Diese ist aber die Vernunfttätigkeit, und die ihrer Auf¬
gabe entsprechende Vernunfttätigkeit ist die Tugend. Die Glückseligkeit des Menschen als
solche besteht demnach in der Tugend. Oder wenn zwei Arten vernünftiger Tätigkeit
und zwei Reihen von Tugenden zu unterscheiden sind, die theoretischen und die praktischen,
so bildet die wissenschaftliche oder die reine Denktätigkeit den wertvollsten, die praktische
Tätigkeit oder die ethische Tugend den zweiten wesentlichen Bestandteil der Glückseligkeit.
Dazu muß nun allerdings noch weiteres hinzukommen. Zur Glückseligkeit gehört Reife
und Vollendung des Lebens: ein Kind kann nicht glückselig sein, weil es noch keiner
vollkommenen Tätigkeit fähig ist. Armut, Krankheit und Unglück stören die Glückseligkeit
und entziehen der tugendhaften Tätigkeit die Hilfsmittel, welche Reichtum, Macht und
Einfluß gewähren; Freude an Kindern, Verkehr mit Freunden, Gesundheit, Schönheit,
edle Geburt sind an sich selbst wertvoll. Aber das positive, konstituierende Element der
Glückseligkeit ist nur die innere Tüchtigkeit, zu der sich die äußeren und leiblichen Güter
lediglich als negative Bedingungen verhalten (wie in der Natur die materiellen zu den
Endursachen); auch das äußerste Unglück kann einen wackeren Mann nicht elend machen,
wiewohl es seiner Eudämonie im Wege steht. Ebensowenig bildet die Lust einen
selbständigen Bestandteil des höchsten Gutes in dem Sinn, daß sie für sich zum
Zweck des Handeln gemacht werden dürfte. Denn wenn sie auch als das naturgemäße
Ergebnis jeder vollendeten Tätigkeit von dieser selbst untrennbar ist und die Vorwürfe,
die ihr Plato und Speusippus gemacht hatten, nicht verdient, so hängt doch ihr Wert
ganz und gar von dem der Tätigkeit ab, aus der sie entspringt: tugendhaft ist nur der,
den das Vollbringen des Guten und Schönen ohne jede Zutat befriedigt, und der dieser
Befriedigung alles andere mit Freuden opfert.