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der Art, wie die gerichtliche und die politische sich immer an einen solchen anlehnen:
allerdings haben auch nur die Kasualreden einen Anlaß, der in ganz gleicher Weise der
geschichtlichen Wirklichkeit angehört, z. B. den Tod eines Gemeindegliedes, einen Sieg,
eine gesegnete Ernte oder etwa eine Predigerversammlung u. dgl. Indessen auch
den im engeren Sinne sogenannten Predigten fehlt der äußere Anlaß nicht, sie knüpfen
sich auch an etwas historisch Gegebenes von ganz anderer Art als jene weltlichen Reden,
nämlich an das Wort Gottes. Hier ist also der Anlaß keine bloß einmal eingetretene
Tatsache, es sind keine gerade jetzt nur vorliegenden Umstände, sondern eine in unver¬
änderlichem Bestände fortdauernde Wirklichkeit, wie denn auch nach der strengeren Ordnung
der katholischen und der ihr folgenden lutherischen Kirche mit jedem neuen Kirchenjahr
derselbe Kreislauf der biblischen Texte, der sogenannten Perikopen, wiederkehrt. In
gleicher Weise unterscheidet sich auch der praktische Zweck der geistlichen Beredsamkeit von
dem praktischen Zweck der weltlichen. Der gerichtliche Redner und der politische haben,
wie ihr Anlaß ein nwmentaner ist, so auch immer nur eine momentane und vereinzelte
Wirkung im Auge; die Tatsachen, die sie bezwecken, sind Tatsachen der äußeren Welt und
können deswegen auch immer nur einmal gerade so zur Erscheinung kommen: die Aus¬
sendung der athenischen Flotte, die Freisprechung des Roscius von AmeriaZ sind die
Sache eines Momentes. Und jede neue Rede geht auf Herbeiführung neuer, so ver¬
gänglicher Fakta aus. Anders die geistliche Beredsamkeit. Indem hier der Redner auf
Anlaß des göttlichen Wortes die Wahrheiten der Religion verkündigt, ist seine Absicht
nicht, die Zuhörer zu einer vorübergehenden äußeren Handlung zu bewegen; wie hier der
Anlaß ein beständig fortdauernder ist, so liegt auch die bezweckte Wirkung nicht in den
Schranken des Momentes und der sinnlichen Außenwelt, sondern es ist die nirgend von
Raum und Zeit abgegrenzte, über das Erdenleben hinausgreifende Erbauung des Reiches
Gottes. Also auch hier ein praktischer Zweck, zu dessen Herbeiführung die bloße Über¬
zeugung nicht ausreichen würde, für den auch der Wille muß angeregt werden; auch hier
eine Tatsache, nur keine momentan vergängliche; auch hier eine Wirklichkeit, nur keine
mit Auge und Ohr wahrnehmbare. Und jeder Prediger will in jeder neuen Predigt
keinen anderen Zweck als immer wieder diesen selben.
Außer diesen drei Arten von Reden, den politischen, den gerichtlichen und den geist¬
lichen, gab es schon int Altertume und gibt es namentlich in der neueren Zeit noch
mancherlei Reden anderer Art, die sich alle unter dem altherkömmlichen Namen des
genus demonstrativuni vereinigen lassen: dieser Name sagt so wenig Bestimmtes aus,
daß er zugleich sehr vieles aussagen kann. Die alten Rhetoriker belegen aber mit diesem
Namen insbesondere die Lobreden, Reden, die bestimmt sind, die Verdienste eines
Lebenden oder Toten zu verherrlichen, daher auch die Benennung genus laudatorium,
womit zunächst eine in der allgemeinen Volksversammlung gehaltene Festrede, dann aber
auch und vorzugsweise eine Lobrede bezeichnet wird. Wir haben aus dem Altertum z. B.
einen solchen Panegyricus vom jüngeren Plinius, eine auf Trajan im Senat gehaltene
Lobrede bei Trajans Lebzeiten und in dessen Anwesenheit, deshalb auch in beständiger
Anrede an Trajan selbst gerichtet. Aus neuerer Zeit gehören dahin z. B. Engels noch
bei Friedrichs des Großen Lebzeiten verfaßte Lobrede auf diesen, sodann die von Goethe
am 18. Februar 1813 in der Freimauerloge zu Weimar gehaltene Gedächtnisrede „Zu
brüderlichem Andenken Wielands"; dahin auch die schon früher genannten akademischen
Eloges der Franzosen. Indessen ob und inwiefern dergleichen Reden eigentlich noch der
h Anmerkung der Herausgeber: Roscius wurde von Cicero verteidigt.