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Bäßler.
nommen. Er war klein von Gestalt, aber stark an Leibes¬
kräften und klugen Geistes. Da er nun hörte, daß die Heer¬
führer wegen seiner Kleinheit mit Geringschätzung von ihm
zu sprechen pflegten, befahl er, einen Stier von furcht¬
barer Größe und unbezähmbarer Wildheit vorzuführen und
einen sehr grimmigen Löwen auf ihn loszulassen. Dieser
stürzte mit gewaltigem Ungestüm auf ihn los, ergriff den
Stier am Nacken und warf ihn zu Boden. Da sagte der
König zu den Umstehenden: „Reißt doch den Löwen vom
Stier oder tötet ihn auf jenem!" Sie sahen sich untereinander
an, ihr Blut erstarrte in den Adern, und entsetzt vermochten
sie kaum die Worte hervorzubringen: „Herr, kein Mensch ist
auf der Erde, der das zu unternehmen wagte." Er aber, mit
mehr Zuversicht erfüllt, erhob sich von seinen! Thron, zog das
Schwert und hieb durch den Hals des Löwen den Kopf des
Stieres von den Schultern, und das Schwert wieder in die
Scheide steckend, setzte er sich auf seinen Thron mit den Worten:
„Scheint es euch jetzt wohl so, als könne ich euer Herr sein?
Habt ihr nicht gehört, was der kleine David mit jenem Riesen
Goliath getan?" Da fielen sie wie vom Donner getroffen
zu Boden und sprachen: „Wem anders als einem Wahn¬
sinnigen könnte es einfallen, Eure Herrschaft über die Sterb¬
lichen zu bestreiten?"
104. Wittekinds Taufe
Es war im Winter und eine Waffenruhe eingetreten.
Wittekind streifte am andern Ufer der Elbe in der Nähe
des fränkischen Heeres umher; da ward er von wunderbarer
Sehnsucht ergriffen, zu schauen, wie die Christen ihren viel¬
gepriesenen Gott verehrten. Das Weihnachtsfest kam heran,
da hüllte sich Wittekind in Bettlerkleider und schlich sich
beim Hereinbrechen des Morgenrots ins fränkische Lager.
Unerkannt schritt er durch die Reihen der Krieger, die sich
zum Gottesdienste anschickten, und betrat die Kirche. Da
wurden nicht Pferde und Rinder geopfert, wie bei den Heiden,
sondern andächtig kniete Karl mit allen seinen Großen vor