Full text: Prosa aus Religion, Wissenschaft und Kunst (Band 2, [Schülerband])

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und jene sind vor aller Welt Augen der Unwahrheit überwiesen. Vielleicht, daß sie 
gerade in der Absicht, von euch also widerlegt zu werden, und weil sie an jedem andern 
Mittel, euch auszuregen, verzweiselten, also hart von euch geredet haben. Wie viel besser 
hätten sie es sodann mit euch gemeint als diejenigen, die euch schmeicheln, damit ihr 
erhalten werdet in der trägen Ruhe und in der nichts achtenden Gedankenlosigkeit! 
So schwach und so kraftlos ihr auch immer sein möget, man hat in dieser Zeit 
euch die klare und ruhige Besinnung so leicht gemacht, als sie vorher niemals war. 
Das, was eigentlich in die Verworrenheit über unsre Lage, in unsre Gedankenlosigkeit, in 
unser blindes Gehenlassen uns stürzte, war die süße Selbstzufriedenheit mit uns und 
unsrer Weise dazusein. Es war bisher gegangen und ging ebenso fort; wer uns zum 
Nachdenken aufforderte, dem zeigten wir statt einer andern Widerlegung triumphierend 
unser Dasein und Fortbestehen, das sich ohne alles unser Nachdenken ergab. Es ging 
aber nur darum, weil wir nicht auf die Probe gestellt wurden. Wir sind seitdem durch 
sie hindurchgegangen. Seit dieser Zeit sollten doch wohl die Täuschungen, die Blend¬ 
werke, der falsche Trost, durch die wir uns alle gegenseitig verwirrten, zusammengestürzt 
sein! — Die angeborenen Vorurteile, welche, ohne von hier oder da auszugehen, wie 
ein natürlicher Nebel über alle sich verbreiteten und alle in dieselbe Dämmerung ein¬ 
hüllten, sollten doch wohl nun verschwunden sein? Jene Dämmerung hält nicht mehr 
unsre Augen; sie kann uns aber auch nicht ferner zur Entschuldigung dienen. Jetzt 
stehen wir da, rein, leer, ausgezogen von allen fremden Hüllen und Umhängen, bloß als 
das, was wir selbst sind. Jetzt muß es sich zeigen, was dieses Selbst ist oder 
nicht ist. 
Es dürfte Jemand unter euch hervortreten und niich fragen: was gibt gerade dir, 
dem einzigen unter allen deutschen Männern und Schriftstellern, den besondern Auftrag, 
Beruf und das Vorrecht, uns zu versammeln und auf uns einzudringen? hätte nicht 
jeder unter den Tausenden der Schriftsteller Deutschlands eben dasselbe Recht dazu wie 
du, von denen keiner es tut, sondern du allein dich hervordrängst? Ich antworte, daß 
allerdings jeder dasselbe Recht gehabt hätte wie ich, und daß ich gerade darum es tue, 
weil keiner unter ihnen es vor mir getan hat; und daß ich schweigen würde, wenn ein 
anderer es früher getan hätte. Dies war der erste Schritt zu dem Ziele einer durch¬ 
greifenden Verbesserung; irgend einer mußte ihn tun. Ich war der, der es zuerst 
lebendig einsah; daruni wurde ich der, der es zuerst tat. Es wird nach diesem irgend 
ein anderer Schritt der zweite sein; diesen zu tun haben jetzt alle dasselbe Recht; wirklich 
tun aber wird ihn abermals nur ein einzelner. Einer muß immer der erste sein, und 
wer es sein kann, der sei es eben! 
Ohne Sorge über diesen Umstand verweilet ein wenig mit eurem Blicke bei der 
Betrachtung, auf die wir schon früher euch geführt haben, in welchem beneidenswürdigen 
Zustande Deutschland sein würde und in welchem die Welt, wenn das erstere das Glück 
seiner Lage zu benutzen und seinen Vorteil zu erkennen gewußt hätte. Heftet darauf 
euer Auge auf das, was beide nunmehr sind, und lasset euch durchdringen von deni 
Schmerz und dem Unwillen, der jeden Edlen hiebei erfassen muß. Kehret dann zurück 
zu euch selbst und sehet, daß ihr es seid, die die Zeit von den Irrtümern der Vorwelt 
lossprechen, von deren Augen sie den Nebel hinwegnehmen will, wenn ihr es zulaßt, daß 
es euch verliehen ist wie keinem Geschlechte vor euch, das Geschehene ungeschehen zu 
machen und den nicht ehrenvollen Zwischenraum auszutilgen aus dem Geschichtsbuche der 
Deutschen. 
Lasset vor euch vorübergehen die verschiedenen Zustünde, zwischen denen ihr eine
	        
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