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und jene sind vor aller Welt Augen der Unwahrheit überwiesen. Vielleicht, daß sie
gerade in der Absicht, von euch also widerlegt zu werden, und weil sie an jedem andern
Mittel, euch auszuregen, verzweiselten, also hart von euch geredet haben. Wie viel besser
hätten sie es sodann mit euch gemeint als diejenigen, die euch schmeicheln, damit ihr
erhalten werdet in der trägen Ruhe und in der nichts achtenden Gedankenlosigkeit!
So schwach und so kraftlos ihr auch immer sein möget, man hat in dieser Zeit
euch die klare und ruhige Besinnung so leicht gemacht, als sie vorher niemals war.
Das, was eigentlich in die Verworrenheit über unsre Lage, in unsre Gedankenlosigkeit, in
unser blindes Gehenlassen uns stürzte, war die süße Selbstzufriedenheit mit uns und
unsrer Weise dazusein. Es war bisher gegangen und ging ebenso fort; wer uns zum
Nachdenken aufforderte, dem zeigten wir statt einer andern Widerlegung triumphierend
unser Dasein und Fortbestehen, das sich ohne alles unser Nachdenken ergab. Es ging
aber nur darum, weil wir nicht auf die Probe gestellt wurden. Wir sind seitdem durch
sie hindurchgegangen. Seit dieser Zeit sollten doch wohl die Täuschungen, die Blend¬
werke, der falsche Trost, durch die wir uns alle gegenseitig verwirrten, zusammengestürzt
sein! — Die angeborenen Vorurteile, welche, ohne von hier oder da auszugehen, wie
ein natürlicher Nebel über alle sich verbreiteten und alle in dieselbe Dämmerung ein¬
hüllten, sollten doch wohl nun verschwunden sein? Jene Dämmerung hält nicht mehr
unsre Augen; sie kann uns aber auch nicht ferner zur Entschuldigung dienen. Jetzt
stehen wir da, rein, leer, ausgezogen von allen fremden Hüllen und Umhängen, bloß als
das, was wir selbst sind. Jetzt muß es sich zeigen, was dieses Selbst ist oder
nicht ist.
Es dürfte Jemand unter euch hervortreten und niich fragen: was gibt gerade dir,
dem einzigen unter allen deutschen Männern und Schriftstellern, den besondern Auftrag,
Beruf und das Vorrecht, uns zu versammeln und auf uns einzudringen? hätte nicht
jeder unter den Tausenden der Schriftsteller Deutschlands eben dasselbe Recht dazu wie
du, von denen keiner es tut, sondern du allein dich hervordrängst? Ich antworte, daß
allerdings jeder dasselbe Recht gehabt hätte wie ich, und daß ich gerade darum es tue,
weil keiner unter ihnen es vor mir getan hat; und daß ich schweigen würde, wenn ein
anderer es früher getan hätte. Dies war der erste Schritt zu dem Ziele einer durch¬
greifenden Verbesserung; irgend einer mußte ihn tun. Ich war der, der es zuerst
lebendig einsah; daruni wurde ich der, der es zuerst tat. Es wird nach diesem irgend
ein anderer Schritt der zweite sein; diesen zu tun haben jetzt alle dasselbe Recht; wirklich
tun aber wird ihn abermals nur ein einzelner. Einer muß immer der erste sein, und
wer es sein kann, der sei es eben!
Ohne Sorge über diesen Umstand verweilet ein wenig mit eurem Blicke bei der
Betrachtung, auf die wir schon früher euch geführt haben, in welchem beneidenswürdigen
Zustande Deutschland sein würde und in welchem die Welt, wenn das erstere das Glück
seiner Lage zu benutzen und seinen Vorteil zu erkennen gewußt hätte. Heftet darauf
euer Auge auf das, was beide nunmehr sind, und lasset euch durchdringen von deni
Schmerz und dem Unwillen, der jeden Edlen hiebei erfassen muß. Kehret dann zurück
zu euch selbst und sehet, daß ihr es seid, die die Zeit von den Irrtümern der Vorwelt
lossprechen, von deren Augen sie den Nebel hinwegnehmen will, wenn ihr es zulaßt, daß
es euch verliehen ist wie keinem Geschlechte vor euch, das Geschehene ungeschehen zu
machen und den nicht ehrenvollen Zwischenraum auszutilgen aus dem Geschichtsbuche der
Deutschen.
Lasset vor euch vorübergehen die verschiedenen Zustünde, zwischen denen ihr eine