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In der Lehre.
1. Ostern.
Die Lerche stieg am Ostermorgen
empor ins klarste Luftgebiet
und schmettert', hoch im Blau ver—
borgen,
ein freudig Auferstehungslied.
Und wie sie schmetterte, da klangen
es tausend Stimmen nach im Feld:
Wach auf, das Alte ist vergangen,
wach auf, du froh verjüngte Welt!
Wacht auf und rauscht durchs
Tal, ihr Bronnen,
und lobt den Herrn mit frohem Schall!
Wacht auf im Frühlingsglanz der
Sonnen,
ihr grünen Halm' und Blätter all!
Ihr Veilchen in den Waldesgründen,
ihr Primeln weiß, ihr Blüten rot,
ihr sollt es alle mit verkünden:
Die Lieb' ist stärker als der Tod!
Wacht auf, ihr trägen Menschen—
herzen,
die ihr im Winterschlafe säumt,
in dumpfen Lüsten, dumpfen
Schmerzen
gebannt ein welkes Dasein träumt;
die Kraft des Herrn weht durch die
Lande
wie Jugendhauch, o laßt sie ein!
Zerreißt wie Simson eure Bande,
und wie die Adler sollt ihr sein!
Wacht auf, ihr Geister, deren
Sehnen
gebrochen an den Gräbern steht;
ihr trüben Augen, die vor Tränen
ihr nicht des Frühlings Blüten seht;
ihr Grübler, die ihr, fern verloren,
traumwandelnd irrt auf trüber
Bahn —
wacht auf, die Welt ist neugeboren;
hier ist ein Wunder, nehmt es an!
Ihr sollt euch all des Heiles freuen,
das über euch ergossen ward;
es ist ein inniges Erneuen
im Bild des Frühlings offenbart.
Was dürr war, grünt im Wehn der
Lüfte,
jung wird das Alte, fern und nah.
Der Odem Gottes sprengt die
Grüfte —
Wacht auf, der Ostertag ist dal
G.v. Geibel.
Neuschäfer, Lesebuch.