Grimm. Hoffmann, ©eliert. von Schmid.
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155. Der Halm hat doch danach gekräht.
Zwei Räuber stiegen um Mitternacht in eine Mühle, um dem
reichen Müller sein Geld zu rauben. Als sie auf dem dunkeln Haus¬
flur auf den Zehen weiterschlichen zur Schlafkammer des Müllers,
krähte nicht weit von ihnen der Haushahn. Der jüngere von den
beiden Räubern fuhr zusammen und sagte leise: „Der Hahn hat mich
recht erschreckt. Wir wollen wieder umkehren; der Diebstahl möchte
auskommen.“ Aber der ältere Räuber schalt ihn: „Du furchtsamer
Hase, willst wohl gleich davonlaufen, wenn ein Hahn kräht oder eine
Maus sich regt? Wer uns in den Weg kommt, den stoßen wir nieder.
Dann kräht kein Hahn danach.“ Die Bösewichte ermordeten auch
wirklich den Müller und machten sich mit dem gestohlenen Gelde
davon; der Mord machte großes Aufsehen, aber den Thäter konnte
man nicht entdecken.
Drei Jahre darauf blieben die beiden Räuber in einer Schenke
über Nacht. Da krähte der Haushahn ganz nahe bei ihnen so laut,
daß beide davon erwachten. ..Der verwünschte Hahn,“ sagte der ältere
der Räuber, „ich könnte ihm gleich den Kragen umdrehen. Seit jener
Nacht in der Mühle ist mir sein Krähen zuwider.“ „Geht es dir auch
so wie mir?“ sagte der jüngere; „wir hätten den Müller nicht um¬
bringen sollen.“
Das Gespräch hörte der Wirt, der nebenan schlief, und machte
der Obrigkeit davon Anzeige. Die beiden verdächtigen Männer wurden
verhaftet , bekannten und empfingen den Lohn ihrer Frevelthat. So
hat der Hahn doch danach gekräht. „ . . ,
° Christophs von Schmid.
156. Die ungehorsame Magd und der Ziegenbock.
Eine reiche Frau ging Sonntags zur Kirche und sagte der Dienst-
magd : „Schließ die Hausthür zu, damit nicht Diebe sich einschleichen,
und sieh darauf, daß kein Schade geschieht!" Nach einer Weile ging
die Magd zum Brunnen, ließ aber wie gewöhnlich die Hausthür offen.
„Meine Herrschaft,“ dachte sie, „ist doch gar zu ängstlich; es ist
die ganze Straße hinauf und hinab kein Mensch zu sehen.“
Während die Magd am Brunnen mit andern Mägden plaudert,
läuft ein Ziegenbock in das Haus und steigt die Treppen hinauf in
das offene Zimmer der Hausfrau. Hier hing ein großer Spiegel, der
bis an den Boden des Zimmers hinabreichte. Der Ziegenbock sah
sich im Spiegel und meinte, da sei noch ein anderer Ziegenbock.
Der Ziegenbock im Zimmer drohte dem Ziegenbock im Spiegel mit
seinen Hörnern, der Ziegenbock im Spiegel that dasselbe. Da sprang
der rechte Ziegenbock auf den Ziegenbock im Spiegel mit großer