Full text: Lesebuch für die Sonntagschulen der Regierungsbezirke Oberbayern, Niederbayern und Schwaben und Neuburg

Das Köstlichste. 
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Ohne zu fragen, warum man von ihnen fordere, Vater und Brüder 
drei Jahre nicht zu sehen, gehorchten die Söhne und zogen in die Fremde. 
Dreimal hatte der Lenz die Insel geschmückt. Als das herbstliche 
Laub zum dritten Male in den Lüften trieb, kehrte ein Königssohn nach 
dem andern in die väterliche Burg zurück. Nachdem der fünfte den Vater 
geküßt, dankte dieser Gott auf den Knieen für die glückliche Heimkehr 
seiner Söhne. 
Am gleichen Tage wie vor drei Jahren versammelte der König 
wieder seine Söhne und seine Räte um den Thron. Er sprach zu den 
ersteren: „Nun zeige mir jeder, was er Köstliches erworben!“ 
Da begann der erste: „Ich tat, wie du gewollt. Ich zog hin in 
die Fremde und kam in manche große und schöne Stadt. Da lernte ich 
Menschen kennen, die in marmornen Häusern wohnten, sich in Seide klei— 
deten und von allem Kostbaren in Fülle besaßen. Daneben sah ich solche, 
die auf den Straßen schliefen, in Lumpen gehüllt waren und ihre Mahl— 
zeiten erbettelten. Ich sagte mir: der Reichtum ist etwas Kostbares, ist 
das Kostbarste. Ich will reich werden! Es gelang mir. Hier in diesen 
Truhen habe ich Gold und Edelsteine, die Früchte meines Strebens, von 
denen ich gerne schenke. Vater, bist du zufrieden?“ 
Darauf der zweite: „Auch ich kam in die Städte, in denen Tugend 
und Laster blühen. Dort traf ich ernste, gute, kluge Menschen. Diese sind 
glücklich, wenn sie der Natur ein Geheimnis abgelauscht, wenn sie einen 
Stern gefunden haben. Es ergriff mich heilige Ehrfurcht vor diesen großen 
Männern und ich sagte mir: das Wissen ist etwas Kostbares, das Kost— 
barste. Ich will Kenntnisse erwerben! Mit dem Fleiße der Biene und 
der Ausdauer der Ameise ging ich ans Werk. Ich habe vieles gelernt, 
wenn ich auch nur wenig weiß gegenüber der Menge alles Wissenswerten. 
Aber ich habe gewuchert mit meinem Talente. Vater, genügt dir, was 
ich erreicht?“ 
Nun der dritte: „Ich fand Gefallen an dem Kampf. Mich reizte 
der Lorbeer des Sieges. So zog ich in den Krieg. Der gräßliche Anblick 
der Leichen und das Stöhnen der Verwundeten quälte mich zwar anfangs; 
aber bald gewöhnte ich mich an Blut und Tod. Man lobte meine Kühn— 
heit und Tapferkeit und gab mir Scharen, denen ich Führer sein durfte. 
Einst galt es, dem Feinde einen wichtigen Paß wieder abzuringen. „Tod 
oder Sieg!“ Mit diesem Rufe erstürmten wir den Übergang. Vater, mit 
dem Ruhme des Siegers kehrt dein Sohn zu dir, dem Könige, zurück! 
Gibt es etwas Kostbareres?“ 
Bescheiden trat der vierte vor den Thron: „Ich kann mich mit 
den Taten meiner Brüder nicht messen. Mich führte das Schicksal auch 
in den Kampf, aber nicht in den Kampf mit den Waffen, auf Leben und 
Tod, sondern in den Weltkampf im Frieden, in die Werkstätte. Dort lernte 
ich das Gold schätzen und verachten; dort erkannte ich, wie nützlich Kennt— 
nisse und Fertigkeiten sind; dort empfand ich das Gefühl ehrlichen Er— 
folges. Aber das Höchste schien mir, dem Jagen der Menschen nach Geld 
und Ehren zusehen und ausrufen zu können: was ich doch alles zu mei— 
nem Glücke nicht brauche! Vater, ich habe gelernt genügsam zu sein.“ 
Lesebuch für Sonntagschulen 
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