Full text: [Teil 8 = [Klasse 2], [Schülerband]] (Teil 8 = [Klasse 2], [Schülerband])

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des Dichters öffnet; es ist ein kleines niedriges, schmuckloses, mit grünen 
Tapeten geziertes Zimmerchen, genau so hergestellt, wie es vor siebzig 
Jahren war. 
Als Immermann es sah, war noch nichts von der Stelle gerückt; 
jedes Blättchen, jeder Federschnitzel war am Orte geblieben, wo sie 
lagen, da der Meister entschlief. Noch zeigt die Uhr die Todesstunde, 
halb zwölf; sie stockte damals, der Zufall schuf ein Wunderähnliches. 
Neben ihr steht am Fenster rechts der kleine Schreibtisch, den der Groß— 
vater für die Enkel machen ließ, die er nach dem Tode des Vaters 
wieder unter seine eigne Obhut und in seine nächste Nähe nahm. Alma 
mußte, um stillsitzen zu lernen, an dem Tischchen neben den Brüdern 
Wölschen und Walter Seidenläppchen zupfen. Da liegen sie noch in 
einem Briefkuvert. 
Hier ist jeder Fleck geweihter Boden, und tausend Gegenstände, 
von denen das Zimmerchen erfüllt ist, reden von dem Wesen und Weben 
des Geistes. Ringsumher an den Wänden laufen niedrige Schränke mit 
Schiebfächern, in denen Schriften aufbewahrt wurden; darüber befinden 
sich Bücherschränke, worin Goethe die Sachen stellte, mit denen er sich 
eben beschäftigte. Das Holzwerk ist altersbraun, ein Schrank von 
poliertem und glänzendem Kirschbaum sticht dagegen ab; die Schwieger— 
tochter redete ihm ihn auf, Goethe mochte lange das gleißende Möbel 
nicht leiden, „das ihn zerstreue.. Darum ist auch kein Kunstwerk im 
Zimmer, wie man auch vergeblich sich nach einem Spiegel und Sofa 
umsieht. Letzteres bedurfte er schon deshalb nicht, weil er den ganzen 
Tag ging oder stand. Er las stehend, er schrieb stehend, er verzehrte 
selbst sein Frühstück an einem hohen Tische stehend. Ein gleiches Ver— 
halten empfahl er jedem, für den er sich interessierte, angelegentlich als 
lebenerhaltend. In der Mitte des Zimmers steht ein großer runder 
Tisch, daran saß der Schreiber, dem er diktierte, während er den Tisch 
unaufhörlich umwandelte. 
Sehen wir uns in dieser ehrwürdigen Werkstatt noch etwas genauer 
um! Hier liegt eine schwarzgefärbte Halbkugel aus Pappe, auf der 
Goethe mittels einer gläsernen Kugel voll Wasser bei hellem Sonnen— 
schein alle Regenbogenfarben zu entzünden liebte. Damit hat er sich 
stundenlang beschäftigen können, besonders nach dem Tode seines Sohnes, 
und seine größte Freude ist gewesen, wenn der bunte Schein sich so 
recht kräftig hervorlocken ließ. Dort steht das kleine Brustbild Napoleons 
aus Opalfluß, das ihm neugefundene Wahrheiten der Farbenlehre be— 
stätigte und ihm zum wahren Entzücken gereichte! Über jene Flasche, 
die uns da auf dem anderen Tische gezeigt wird, jauchzte er wie ein 
Kind. Es war roter Wein darin gewesen; sie hatte auf der einen 
Seite umgelegen, und als Goethe sie zufällig gegen das Licht hielt, so 
sah er darin die allerschönsten Kristallisationen des Weinsteins in Blätter—
	        
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