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18. Alpenpredigt.
5letzten Bäumen beginnt erst das eigentlich Große: das kahle Gebirge,
der redende Stein. Unten im Tal kommt der Stein nicht zu Worte,
weil er überwachsen, übertost, umspült ist. Da unten zeigt er sich nur
hie und da in seiner Blöße und niemals in seiner Herrlichkeit. Um
sprechen zu können muß er Platz haben, der ihm allein gehört. Auf,
10 laßt uns steigen und mit den Augen hören, was die Steine sagen!
Was ist der Mensch zwischen diesen alten Bergen? Selbst tausend
Menschen machen hier keinen Eindruck, einzelne Wanderer aber sind
wie Fliegen an der Wand des Berliner Schlosses. Wir pilgern hundert
Meter höher und nochmals hundert, die Welt der kurzlebigen ge-
» wachsenen Dinge sinkt immer tiefer. Da drunten die weißen Flecke
sind Wohnungen und Ställe, das silberne Bändchen ist der Fluß. Wie
klein die Kirchtürme sind! Wir sind oberhalb der Geschichte dieser
Dörfer, Kirchen und Völker. Was macht es im Leben dieser Berge
aus, ob hier seit tausend Jahren Ansiedelungen sind oder nicht?. Immer
20 möchte man nicht in der übergeschichtlichen Luft dieser Berge atmen;
aber einmal auf Stunden oben sein und die Geschichte der Erde wie
steinerne Sage sich erzählen lassen ist eine Befreiung vom Kleinkram,
der in uns und um uns ist. Man sagt, daß diese Berge Gott verkünden.
Mit Recht! Sie sind ein Stück Ewigkeit für unsere Kurzlebigkeit, ein
25 Stück Beständigkeit gegenüber unserer Wandelbarkeit, ein Stück Ruhe
über unserer Unruhe. Man muß recht still ihnen zuschauen. In
ihren Rissen und Falten liegen alte Schmerzen der Erde, überwundene,
kalt gewordene Schmerzen. Man ahnt ohne viel Redens, wie unsagbar
schwer die Geburt dieser Berge gewesen ist. Und was sind diese Berge
30 gegenüber der Sonne? Und was ist die Sonne im Weltall Gottes?
Im Gebirge verliert man die Lust an den kleinen Zierlichkeiten
und Schnörkeln. Hier oben sind alle Menschen gleich. Hier fragt dich
niemand, was du drunten erreicht hast; hier fragen dich die Steine
nur, was du bist, ob du etwas Ganzes, Festes, Deutliches geworden
rs bist. Hier, wo alle Zacken klar liegen, hilft keine Bemäntelung. Die
Steine schauen dir ins Auge mit ihrer großen, zerrissenen Mächtigkeit.
Sie haben etwas erlebt und sind etwas geworden und sind etwas
geblieben. Alle Wasser und aller Schnee haben sie nicht töten können.
Dort unten liegt der Schutt, das, was an ihnen sterblich war. Das
40 bildet jetzt den Boden der Menschengeschichte. Was aber kernhaft war,
das blieb in den Höhen, das ragt Tag und Nacht in Einsamkeit dem
ewigen Raume entgegen.
Hier oben kann die Kultur nichts glatt polieren, es ist zu viel
kantiger Urstoff vorhanden. Auch dann noch, wenn alles Niederland
4s eine Kunstplantage für Damen und Herren sein wird, wird hier oben
ein Gebiet unverderblicher Natur bleiben, eine Welt kräftiger, unge-
milderter, herrlicher Disharmonien. Gott sei Dank, daß er sie werden
ließ! Friedrich Naumann.