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nächsten Morgendämmerung erhob sich der König Alkinous und sein ihm
noch unbekannter Gast vom Lager. Beide gingen auf den Markt und
setzten sich auf zwei behauene Steine nieder, dergleichen rings umher für
die phäakischen Fürsten aufgestellt waren, wenn sie sich zu einer allgemeinen
Beratschlagung versammelten. Bald kamen auch die Fürsten in Scharen
herbei und erfüllten die Sitze, während das Volk sich neugierig durch
einander drängte, den Fremdling zu sehen, über dessen Geleitung jene be—
raten wollten. Er aber stand wie ein Gott unter ihnen; denn Athene
hatte ihm eine riesige Heldengestalt und feurige Jugend verliehen, damit
er Bewunderung und Liebe bei den Phäaken erweckte. Als sie alle ver—
sammelt waren, nahm der König das Wort: „Hört mich an,“ sprach
er, „ihr erlauchten Fürsten und Phäaken! Dieser Fremdling hier (ich
kenne ihn nicht und weiß nicht, ob er vom Morgen oder vom Abend her
zu uns gekommen ist), hilfeflehend kam er in mein Haus und begehrt
don uns weiter geleitet zu werden. Auf also, ihr Jünglinge, versammelt
euch, zweiundfünfzig an der Zahl, zieht ein gut bewährtes Schiff ins
Meer und besorget alles, was dazu gehört! Ihr aber, ihr Fürsten,
erfüllt mir eine andere Bitte! Folgt mir in meinen geräumigen Saal,
damit wir den Fremdling würdig bewirten, und daß unserer Freude doch
auch das Lied nicht fehle, so rufet den göttlichen Sänger Demodokus
herbei!“ — Als nun das Mahl bereitet war, erschien der abgeschickte
Diener mit dem alten Sänger, die Fürsten im Saale zu belustigen.
Demodokus war ein blinder Mann, aber sein Gedächtnis war voll von
herrlichen Geschichten, die sein beredter Mund entzückend vorzutragen wußte,
indes seine Hand kräftig die Saiten der Phorminx rührte. Der Herold
führte ihn sanft am Arme herbei, stellte ihm mitten im Kreise einen
Sessel hin an eine Säule des Saals und über seinem Haupte hängte er
die Phorminx an einem Nagel auf, lenkte auch freundlich dem blinden
Manne die Hand dahin, daß er nachher sie finden könnte. Dann setzte
er einen Tisch mit Fleisch vor ihn hin, holte den Brotkorb herbei, mischte
Wein für ihn und bediente so auch alle übrigen Gäste. Als nun die
Eßlust der Schmausenden gestillt war, griff der Sänger nach seiner Phor—
minx, das Spiel zu beginnen. Und nun erscholl sein Lied wie ferner
Schlachtruf und Schwerterklirren und donnernder Hufschlag zur Feier des
Trojanerkriegs. Alles lauschte begeistert den Klängen, die tief in jedem
Griechenherzen wiederhallten. Da wandte sich sein Gesang, und nun pries
er den Streit zweier Helden, deren Ruhm vor allen groß war, des Achil⸗
leus und Odysseus. Das traf unsern Helden wie ein Schwertstreich.
Die Erinnerung riß alle Wunden seines Herzens wieder auf; er zog den
Mantel über das Haupt und verbarg sein Gesicht, daß die Phäaken seine
Thränen nicht sähen. Erst als der Sänger schwieg, trocknete er sich die
Thränen und nahm den Mantel von seinem Haupte. Aber sobald der
Sänger wieder anhub, stürzten auch die Thränen wieder hervor. Odysseus
schluchzte. Das hörte Alkinous, der ihm zunächst saß; aber schonend, als
merke er's nicht, sprach er bei der Pause des Gesanges zu seinen Gästen:
„Hört, ihr Freunde, ich denke, jett haben Mahl und Gesang uns sattsam
erfreui. Laßt uns nun hinausgehen und Kampfspiele versuchen, damit unser