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Fragen, wer wir seien, und ob etwa Raubsucht uns zu ihm geführt hätte,
erzählte ich ihm, daß wir vom Sturme hierher verschlagen worden seien,
hütete mich aber, auf die weitere Frage des Ungetüms, wo sich denn unser
Schiff befinde, die richtige Antwort zu geben, da ich wohl merkte, daß
der Kyklop keine andere Absicht hatte, als sich desselben zu bemächtigen.
Ich gab vielmehr vor, daß das Fahrzeug an den Klippen der Felsen zer—
schellt sei, und ich mit den Meinigen nur das nackte Leben gerettet habe;
schließlich bat ich um die Gastfreundschaft des Riesen. Allein hohnlächelnd
ergriff dieser statt jeglicher Antwort zwei meiner unglücklichen Gefährten,
schmetterte sie gegen den Boden der Höhle und ließ sich, nachdem er die
Körper zerlegt hatte, diese abscheuliche Kost vor unsern Augen wohlschmecken.
Hierauf streckte er sich zum nächtlichen Schlummer nieder. Wir hatien jetzt
alle Muße, das Entsetzliche unserer Lage zu bedenken. Allerlei Mittel zur
Rettung wurden ersonnen, aber keins erschien uns ausführbar, bis ich selbst
auf einen Plan kam, der, wenn er gelang, uns aus den Klauen des
Ungeheuers befreien mußte. Sobald der Kyklop am andern Morgen mit
seiner Herde die Höhle verlassen und mit dem ungeheuern Steine verschlossen
hatte, wurde zur Ausführung geschritten. Aus der Zahl meiner noch übrigen
Gefährten — denn ihrer zwei hatten dem Riesen wiederum zum Frühstück
dienen müssen — wählte ich die vier beherztesten aus. Nachdem ich ihnen
mitgeteilt hatte, daß meine Absicht wäre, den Riesen seines einzigen Auges
zu berauben, um dann ungesehen aus der Höhle entfliehen zu können,
spitzte ich mit ihrer Hilfe einen Baum, den Polyphem als Keule zu be—
nutzen pflegte, an dem einen Ende zu und verbarg ihn. Jetzt erschien
der Riese. Mit verstellter Freundlichkeit nahte ich mich ihm und reichte
ihm aus dem mitgebrachten Schlauche eine Kanne Weins. Das ungewohnte
süße Getränk mundete dem Kyklopen; er begehrte und erhielt mehr und
immer mehr und geriet bald in die heiterste Laune. „Ha,“ rief er ver—
gnügt, „das ist ein herrliches Getränk! Aber sage mir nun, wie du heißest,
damit ich dich nach Gebühr ehren kann.“ „Ich habe einen seltsamen Namen,“
erwiderte ich; „Vater und Mutter und alle Menschen nennen mich Niemand.“
„Nun, Freund Niemand,“ fuhr der Kyklop fort, „uum Danke für das
schöne Getränk will ich dich zuletzt verzehren.“ Und mit diesen Worten
leerte er abermals eine Kanne des süßen Getränks. Es währte nicht lange,
so äußerte der Wein seine betäubende Wirkung in so vollem Maße, daß
der Kyklop in einen tiefen Schlaf verfiel. Nun war der erwünschte
Augenblick gekommen; rasch entzündeten wir den zugespitzten Pfahl an den
glühenden Kohlen und senkten ihn dann in das vom Schlummer geschlossene
Auge des Riesen. Mit wildem Gebrülle fuhr dieser von seinem Lager auf
und erfüllte die Luft mit seinem Geschrei. Aus dem Schlafe gestört, eilten
die Kyllopen aus den benachbarten Höhlen herbei, indem sie durch den ver—
schlossenen Eingang in die Höhle hineinriefen, was ihm denn wäre, und
wer ihm etwas zu Leide gethan hätte. Polyphem antwortete: „Niemand
will mich morden, Niemand bringt mich um!“ Als die Kyklopen dies hörten,
sagten sie: „Nun, wenn niemand dir etwas zu Leide thut, warum schreist
du denn so? Du bist wohl krank oder nicht bei Sinnen!“ Und mit diesen
Worten zogen sie wieder ab. Wir hatten uns unterdessen in den äußersten