Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Teil 1, [Schülerband])

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Fragen, wer wir seien, und ob etwa Raubsucht uns zu ihm geführt hätte, 
erzählte ich ihm, daß wir vom Sturme hierher verschlagen worden seien, 
hütete mich aber, auf die weitere Frage des Ungetüms, wo sich denn unser 
Schiff befinde, die richtige Antwort zu geben, da ich wohl merkte, daß 
der Kyklop keine andere Absicht hatte, als sich desselben zu bemächtigen. 
Ich gab vielmehr vor, daß das Fahrzeug an den Klippen der Felsen zer— 
schellt sei, und ich mit den Meinigen nur das nackte Leben gerettet habe; 
schließlich bat ich um die Gastfreundschaft des Riesen. Allein hohnlächelnd 
ergriff dieser statt jeglicher Antwort zwei meiner unglücklichen Gefährten, 
schmetterte sie gegen den Boden der Höhle und ließ sich, nachdem er die 
Körper zerlegt hatte, diese abscheuliche Kost vor unsern Augen wohlschmecken. 
Hierauf streckte er sich zum nächtlichen Schlummer nieder. Wir hatien jetzt 
alle Muße, das Entsetzliche unserer Lage zu bedenken. Allerlei Mittel zur 
Rettung wurden ersonnen, aber keins erschien uns ausführbar, bis ich selbst 
auf einen Plan kam, der, wenn er gelang, uns aus den Klauen des 
Ungeheuers befreien mußte. Sobald der Kyklop am andern Morgen mit 
seiner Herde die Höhle verlassen und mit dem ungeheuern Steine verschlossen 
hatte, wurde zur Ausführung geschritten. Aus der Zahl meiner noch übrigen 
Gefährten — denn ihrer zwei hatten dem Riesen wiederum zum Frühstück 
dienen müssen — wählte ich die vier beherztesten aus. Nachdem ich ihnen 
mitgeteilt hatte, daß meine Absicht wäre, den Riesen seines einzigen Auges 
zu berauben, um dann ungesehen aus der Höhle entfliehen zu können, 
spitzte ich mit ihrer Hilfe einen Baum, den Polyphem als Keule zu be— 
nutzen pflegte, an dem einen Ende zu und verbarg ihn. Jetzt erschien 
der Riese. Mit verstellter Freundlichkeit nahte ich mich ihm und reichte 
ihm aus dem mitgebrachten Schlauche eine Kanne Weins. Das ungewohnte 
süße Getränk mundete dem Kyklopen; er begehrte und erhielt mehr und 
immer mehr und geriet bald in die heiterste Laune. „Ha,“ rief er ver— 
gnügt, „das ist ein herrliches Getränk! Aber sage mir nun, wie du heißest, 
damit ich dich nach Gebühr ehren kann.“ „Ich habe einen seltsamen Namen,“ 
erwiderte ich; „Vater und Mutter und alle Menschen nennen mich Niemand.“ 
„Nun, Freund Niemand,“ fuhr der Kyklop fort, „uum Danke für das 
schöne Getränk will ich dich zuletzt verzehren.“ Und mit diesen Worten 
leerte er abermals eine Kanne des süßen Getränks. Es währte nicht lange, 
so äußerte der Wein seine betäubende Wirkung in so vollem Maße, daß 
der Kyklop in einen tiefen Schlaf verfiel. Nun war der erwünschte 
Augenblick gekommen; rasch entzündeten wir den zugespitzten Pfahl an den 
glühenden Kohlen und senkten ihn dann in das vom Schlummer geschlossene 
Auge des Riesen. Mit wildem Gebrülle fuhr dieser von seinem Lager auf 
und erfüllte die Luft mit seinem Geschrei. Aus dem Schlafe gestört, eilten 
die Kyllopen aus den benachbarten Höhlen herbei, indem sie durch den ver— 
schlossenen Eingang in die Höhle hineinriefen, was ihm denn wäre, und 
wer ihm etwas zu Leide gethan hätte. Polyphem antwortete: „Niemand 
will mich morden, Niemand bringt mich um!“ Als die Kyklopen dies hörten, 
sagten sie: „Nun, wenn niemand dir etwas zu Leide thut, warum schreist 
du denn so? Du bist wohl krank oder nicht bei Sinnen!“ Und mit diesen 
Worten zogen sie wieder ab. Wir hatten uns unterdessen in den äußersten
	        
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