Full text: Deutsches Lesebuch für Tertia (Teil 4, [Schülerband])

L. Hausser: Deutschland nach dem dreißigjährigen Kriege. 351 
rheinischen Bundes geübt ward, daß es ungestört in den Friedens¬ 
schlüssen von 1659 und 1668 sich eine furchtbare Grenze nach Osten 
zu schaffen vermochte, daß es in dem Kriege gegen Holland, als end- 
lich Kaiser und Reich sich in Bewegung setzten, neue Vergrößerungen 
errang und Deutschland um Früchte brachte, die der Brandenburger 
Kurfürst in seinen Siegen über die Schweden gewonnen, war gewiß 
kein unerwartetes Ergebniß, wenn man die Organisation Frankreichs 
mit der des Reiches, die Armeen und Feldherrn Ludwigs XIV. mit 
der Reichsarmee, Hof und Diplomatie des französischen Königs mit 
der Persönlichkeit und Umgebung Leopolds I. verglich, wenn man be¬ 
dachte, daß hier dem „immerwährenden" Reichstage Schutz und Schirm 
des Landes überlassen war, dort ein Colbert und Louvois die Staats¬ 
und Heereskräfte leiteten. Frankreich hatte in diesen zwei Jahrzehnten 
von 1659 —1679 die Schwäche und Unbeweglichkeit des Reiches 
kennen lernen, seine Reunionen und die Wegnahme von Straßburg 
bewiesen, daß diese Erfahrungen nicht verlorett waren. 
Unter dem Eindrücke dieser verfallenden äußeren Ordnung des 
Reiches hat die geschichtliche Betrachtung häufig diesen Abschnitt unserer 
Entwicklung ungünstiger beurteilt, als er es verdiente. War doch 
dies Zeitalter reich an bedeutenden Persönlichkeiten, und verdiente 
nüt Nichten den Vorwurf völliger Erschlaffung und Thatenarmut. 
Eine Epoche, die einen Herrscher hervorbrachte wie den großen Kur¬ 
fürsten von Brandenburg, Kirchenfürsten wie Johann Philipp von 
Schönborn, Denker une Leibniz, Soldaten wie Derfflinger war nicht 
unfruchtbar zu nennen. Die alte Kraft deutschen Wesens war nicht 
verloren, auch wenn sie sich nun in engeren Kreisen geltend machte. 
Tapferkeit und kriegerische Talente, Arbeitsamkeit und haushälterischer 
Sinn, schlichte Tüchtigkeit in allen Zweigen fehlten nicht; nur war 
die ausgelebte Form des alten Reiches der rechte Spielraum nicht 
mehr, sie zu üben. So waren denn auch die Gedanken, welche die 
besseren Zeiten erfüllt und gehoben hatten, keineswegs abgestorben; 
nur suchten sie in den kleineren territorialen Gebieten zu der Ent¬ 
faltung zu kommen, die ihnen das Reich nicht geben konnte. Alles, 
was eine Nation im großen erheben kann — Heereskraft, bürgerliche 
Thätigkeit und Wohlfahrt, gesicherte Zustände im Innern und gegen 
außen, Pflege geistigen Lebens — das fand z. B. in dem jungen 
preußischen Staate des großen Kurfürsten einen so bedeutsamen Aus¬ 
druck wie irgendwo auf dem europäischen Festlande; von dort aus 
wurde deutsche Waffemnacht zu Ehren gebracht, von dort eine vater¬ 
ländische Politik verfolgt, von dort wirksam in den Gang der großen 
Geschichte Europas eingegriffen, alles dieses in einem Zeitraunie, wo 
sich die Organisation des Reiches hierzu als unfähig erwies.
	        
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