Full text: [Teil 7 = Klasse 3, [Schülerband]] (Teil 7 = Klasse 3, [Schülerband])

haben sich parallel zum Heranwachsen der Großstadt spannende kleine 
Romane der „wilden" Tierwelt abgespielt. 
Mit dem Übergang einst von Dörfern in Städte überhaupt war 
inanches patriarchalische Verhältnis von Mensch und Vogel unwiderbringlich 
verfallen: so das Storchnest auf dem Dach. Aber aus dem Dächermeer 
wuchs der Domturm ins Blaue, und in ihm siedelte sich mit treuer Liebe 
der kleine, edelgeformte Turmfalke an. Kein Kunstfreund aus den Tagen 
Meister Erwins oder der Brüder Boisseree hat fester zur Gotik gehalten 
als dieser zierliche Raubvogel. Das Straßburger Münster, der Cölner 
Dom waren ihm die erwünschtesten „Höhlen". Aber ihn selbst umspann 
die Romantik menschlicher Träumerei. Es heftete sich ihm die Legende 
an, daß er einem andern Höhlenvogel, den der Mensch offiziell in seinen 
Schutz genommen, nach Leib und Leben stelle, nämlich der Taube. In 
Wahrheit ist er zu schwach, um auch der dümmsten Taube ein Leid an¬ 
zutun, und seine wirkliche Nahrung — Mäuse und schädliche Insekten — 
sollte ihn selbst zum ausgesprochenen Schützling des Menschen stempeln. 
Aber der Wahn sitzt fest, unb immer wieder muß der Unschuldige als 
böser Taubenstößer bluten. Ehe der Irrtum ausgerottet ist, wird er 
es sein. 
Umgekehrt in der Tiefe hat sich das Tierdrama des Rattenkampfes, 
zunächst unabhängig vom Menschen, vollzogen. 
In der mittelalterlichen Stadt und noch in jener etwa, in der der junge 
Goethe aufwuchs, lebte die schwarze Hausratte überall. Dunkel war sie, 
in echter Schutzfarbe finsterer „Höhlenwinkel" des altertümlichen deutschen 
Stadthauses. Auch sie ist einmal „gekommen", aber keiner weiß mehr 
woher. Gewiß ist, daß die Griechen mrd Römer sie nicht kannten; gewiß 
aber auch, daß sie in den Tagen des Albertus Magnus (um 1250) all¬ 
gemein da war. 
Dann aber, eben in der Zeit, da die Großstadt sich in ersten Anfängen 
zeigte, kam (mit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts) die braune 
Wanderratte aus Rußland herüber und eroberte Kultureuropa. Im Herbst 
1727 war sie beobachtet worden, wie sie, in unermeßlichem Gewimmel aus 
der asiatischen Steppe kommend, bei Astrachan die Wolga überschwamm. 
1750 hatten sich die ersten Vorposten in Ostpreußen gemeldet. Dreißig 
Jahre später war ganz Mitteldeutschland voll. 1809 erschien sie in der 
Schweiz, nachdem sie lange vorher schon England erobert hatte. Mit der 
englischen Flotte ist sie dann buchstäblich um die Welt gegangen. 
Bei uns warf sie sich sofort mit der Kraft des Bauern auf die 
Städterin, und indem sie die schwarze fortbiß, nahm sie selbst Besitz von 
der Stadt und, mit dieser wachsend, von der Großstadt. Kaum daß in 
einem alten Patrizierhaus noch die Ratte der guten alten Zeit fortlebt. 
Sie war ein kleinstädtisch verträgliches, ängstliches Tier gewesen, diese 
dunkle Ratte. Die neue mit ihrer Lehmfarbe feuchter Neubauten wurde
	        
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