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A. Erzählende Prosa. LI Geschichtliche Darstellungen.
8. Hannibal.
Nach Theodor McmmsenS Römischer Geschichte.
Als Hasdrubal im Anfang des Jahres 220 von Mörderhand gefallen
war, beriefen die karthagischen Offiziere des spanischen Heeres an seine Stelle
Hamilkars ältesten Sohn, den Hannibal. Er war noch ein junger Mann, ge-
boren 249, also damals im neunundzwanzigsten Lebensjahr; aber er hatte schon
viel erlebt. Seine ersten Erinnerungen zeigten ihm den Vater im entlegenen Lande
fechtend und siegend aus der Eirkte (Bergfeste in Sicilien); er hatte den Frieden des
Catulus, die bittere Heimkehr des unbesiegten Vaters, die Greuel des libyschen
Krieges mit empfunden. Noch ein Knabe, war er dem Vater ins Lager gefolgt;
bald zeichnete er sich aus. Sein leichter und festgebanter Körper machte ans ihm
einen vortrefflichen Läufer und Fechter und einen verwegenen Galoppreiter; sich
den Schlaf zu versagen, griff ihn nicht an, und Speise wußte er nach Sol¬
datenart zu genießen und zu entbehren. # Trotz seiner im Lager verflossenen
Jugend besaß er die Bildung der vornehmen Phöniker jener Zeit; im Griechischen
brachte er, wie es scheint, erst als Feldherr, unter der Leitung seines Vertrauten
Sosilos von Sparta es weit genug, um Staatsschriften in dieser Sprache selber
abfassen zu können. Als er herangewachsen war, trat er in das Heer seines Vaters
ein, um unter dessen Augen seinen ersten Waffendienst zu tun, um ihn in der
Schlacht neben sich fallen zu sehen. Nachher hatte er unter Hasdrubal, dem Ge¬
mahl seiner Schwester, die Reiterei befehligt und durch glänzende persönliche Tapfer¬
keit wie durch sein Führertalent sich ausgezeichnet. Jetzt rief ihn, den erprobten,
jugendlichen General, die Stimme seiner Kameraden an ihre Spitze, und er
konnte nun ausführen, wofür sein Vater und sein Schwager gelebt hatten und
gestorben waren.
Er trat die Erbschaft an und durfte es. Seine Zeitgenossen haben auf
seinen Charakter Makel mancherlei Art zu werfen versucht: den Römern hieß
er grausam, den Karthagern habsüchtig; freilich haßte er, wie nur orientalische
'Naturen zu hassen verstehen, und ein Feldherr, dem niemals Geld und Vorräte
ausgegangen sind, mußte wohl suchen etwas zu gewinnen. Indes, wenn auch Zorn,
Neid und Gemeinheit seine Geschichte geschrieben haben, sie haben das reine und
große Bild nicht zu trüben vermocht. Von schlechten Erfindungen, die sich selber
richten, und von dem abgesehen, was durch Schuld seiner Unterseldherren in
seinem Namen geschehen ist, liegt in den Berichten über ihn nichts vor, was
nicht unter den damaligen Verhältnissen und nach dem damaligen Völkerrecht
zu verantworten wäre, und darin stimmen sie alle zusammen, daß er, wie kaum
ein anderer, Besonnenheit und Begeisterung, Vorsicht und Tatkraft miteinander
zu vereinigen verstanden hat. Eigentümlich ist ihm die erfinderische Verschmitzt¬
heit, die einen der Grnndzüge des phönikischen Charakters bildet; er ging gern
eigentümliche und ungeahnte Wege, Hinterhalte und Kriegslisten aller Art waren
ihm geläufig, und den Charakter der Gegner studierte er mit beispielloser Sorg¬
falt. Durch eine Spionage ohnegleichen — er hatte stehende Kundschafter
sogar in Rom — hielt er von den Absichten des Feindes sich unterrichtet;
ihn selbst sah inan häufig in Verkleidungen und mit falschem Haar, dies oder