35. Der fischen Von Motfgang von Goethe.
Werke. Sophienausgabe. 1. Band. Weimar 1887. 8. 169.
1. Das Wasser rauscht', das Wasser
schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach dem Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt, und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor;
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.
2. Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
„Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach, wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.
3. Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ewgen Tau?"
4. Das Wasser rauscht', das Wasser
schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll,
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war's um ihn geschehn, —
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehn.
36. Die Älällfilbtt Häcb Kevlääf* Von Heinrich Heine.
Sämtliche Werke. 1. Band. Stuttgart 1886. 8. 174.
1.
1. Am Fenster stand die Mutter,
Im Bette lag der Sohn.
„Willst du nicht aufstehn, Wilhelm,
Zu schaun die Prozession?"
2. „Ich bin so krank, o Mutter,
Daß ich nicht hör' und seh';
Ich denk' an das tote Gretchen,
Da tut das Herz mir weh." —
3. „Steh auf, wir wollen nach Kevlaar,
Nimm Buch und Rosenkranz;
Die Mutter Gottes heilt dir
Dein krankes Herze ganz."
4. Es flattern die Kirchenfahnen,
Es singt im Kirchenton;
Das ist zu Cöllen am Rheine,
Da geht die Prozession.
5. Die Mutter folgt der Menge,
Den Sohn, den führet sie;
Sie singen beide im Chore:
„Gelobt seist du, Marie!"
2.
1. Die Mutter Gottes zu Kevlaar
Trägt heut ihr bestes Kleid;
Heut hat sie viel zu schaffen,
Es kommen viel kranke Leut'.
Porger-Lemp, Lesebuch. VII.
2. Die kranken Leute bringen
Ihr dar, als Opferspend',
Aus Wachs gebildete Glieder,
Viel wächserne Füß' und Händ'.