Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

Sage, Welt- und Kirchengeschichte. 
549 
etwa gegen die Weihnachtszeit sein, als der Alte sich auf obige Frage 
hinter den Ohren kratzte und gleichgültig erwiderte, er wisse nischt, außer 
etwa nur das, daß der Napoleon in der Nacht eingepassiert wäre. 
„Wer sagt das!" ries mein Vater, indem er aufsprang und den 
alten Brummbär bei den Schultern packte. 
„Nu, nu!" erwiderte der, „wersoll's denn sagen; die Leute sprechend." 
Der Vater ließ alles stehen und liegen, eilte in die Stadt und kam 
bald mit der Bestätigung der großen Neuigkeit zurück. Napoleon war 
wirklich angekommen, unangemeldet, allein und ohne alte oder junge 
Garde. Ganz überraschend war er halb erfroren bei seinem Gesandten 
vorgefahren, hatte diesen aus den Federn geschreckt, sich in sein warmes 
Bett gelegt und war vor Tagesanbruch schon wieder abgereist. Der 
Hiobspost von dem Untergange der Armee vorauseilend, hatte er Nord¬ 
deutschland wie ein Blitz durchzuckt, um in ein Dresdener Bett zu schlagen; 
dann zuckte er weiter bis Paris. 
Der alte Blanke bekam für seine Nachricht einen Thaler, und die 
zahlreich vorsprechenden Freunde tranken vom besten Rheinwein, den wir 
im Keller hatten. So wackere Gesichter hatte man lange nicht gesehen, 
denn wenn Napoleon als sein eigener Kurier die Armee verlassen hatte, 
so mußte ihm das Wasser au die Kehle gehen. 
Unser Haus war ein sehr hohes; außer dem Erdgeschoß noch vier 
Etagen übereinander; dann folgte erst der Dachboden, an welchem alle 
Mietsleute ihren Anteil und Verschluß hatten. Hier oben war eine 
romantische Welt, ein Labyrinth von dunklen, winkligen Gängen, Ver¬ 
schlügen und Rumpelkammern, voll alten weggesetzten Hausrates und voll 
Reiz für Kinder. Ueberdem erfreute man sich aus den Dachlucken einer 
weiten Aussicht aus die Meißener Gegend, wie auch nach Norden über 
das schwarze Thor hinaus bis auf die waldigen Höhen der Radeberger 
Heide. 
Indem mein Bruder und ich nun eines Morgens hier unser Wesen 
hatten, fiel es uns ein, doch einmal auszuschauen, ob die Russen noch 
nicht kämen. Wir blickten angestrengt und lange in die Ferne und 
wollten eben die Köpfe wieder einziehen — da! nein es war keine 
Täuschung, da zeigten sie sich wirklich! Am Saum des fernen Kiefern¬ 
waldes, wo dieser an eine öde Sandfläche grenzte, die sich bis zur Stadt 
heranzog, war plötzlich ein neuer Gegenstand erschienen, ein dunkles 
Etwas, das sich lebhaft hin und her bewegte. Dann waren es zwei und 
immer mehrere. Bald schwärmte es wie ein Mückenschwarm der Stadt 
zu. „Die Russen! die Russen!" frohlockten wir, und fort ging's mit 
Sturmeseile, den Eltern das entzückende Ereignis zu verkünden. Mein 
Bruder krallte sich fest an meine Jacke, schreiend, er wollte es auch mit¬ 
sagen, denn er habe es zuerst gesehen, was auch nahe an die Wahrheit 
streifte. So wirbelten wir gekoppelt und gedoppelt die Treppe hinunter 
und drangen atemlos in das Arbeitszimmer des Vaters, der empört 
über unser Ungestüm den Malstock hob und uns die Flegelei verwies. 
Da er aber den Grund unserer Aufregung erfuhr, eilte er, die Arbeit 
vergessend, mit uns auf den Boden und blickte mit seinem scharfen Auge
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.