Ein kleines Lied
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Ich schwieg fortan über mein stilles Treiben und widmete ihm
nur noch die Stunden, auf die niemand den geringsten Anspruch
erhob. Aber erlöst war ich von der unglücklichen Liebe zur Schrift-
stellerei nicht, wenn es auch Stunden gab, in denen ich mich
ihrer schämte.
Da trat endlich, endlich die günstige Wendung in meiner
Schriftsteller-Laufbahn ein. Die Novelle „Der Spätgeborne"
errang, worauf ich bis dahin vergeblich gehofft hatte: einen ersten
kleinen Erfolg.
Der Lebenskampf eines jeden Menschen, der ernstlich und
heiß nach zu hoch gesteckten Zielen strebt, ist ein schwerer. Was
ihm zu seiner Erlösung am nötigsten wäre, erlangt er zuletzt —
die Demut. Es dauert lang, ehe der Phantast, der meinte, nur
auf dem Bergesgipfel werde er frei atmen können, sich zu dessen
Füßen in einem Hüttlein eingerichtet und darin seinen Frieden
findet.
In meiner Jugend war ich überzeugt, ich müsse eine große
Dichterin werden, und jetzt ist mein Herz von Glück und Dank
erfüllt, wenn es mir gelingt eine lesbare Geschichte niederzu¬
schreiben. Marie von Ebner-Eschenbach.
118. Ein kleines Lied.
Ein kleines Lied! Wie geht's nur an,
Daß man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? Erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Nnd eine ganze Seele. Marie von Ebner-Eschenbach.
119. Die Siegerin.
Es kam einst zu einem ungeheuren, einem echten Titanen¬
kampf. Alle Tugenden und alle Laster rangen miteinander auf
Leben und Tod. Furchtbare Wunden klafften, in Strömen floß
das Blut. Hinterlist und Tücke hatten die Gerechtigkeit über¬
wältigt und ihr den Arm gelähmt. Zerfleischt von den Zähnen
und Klauen des Hasses und der Eifersucht, erstarb die Liebe;