422
Hochmeister entwickelte sie sich bald zu einem angesehenen Handels¬
plätze. Später, während der dreihundertjährigen polnischen Re¬
gierung, hatte sie viel unter inneren Kämpfen, Kriegsnöten und
Willkürherrschaft zu leiden. Heute ist die freundliche Stadt mit
ihren roten Ziegeldächern und schlanken Kirchtürmen der Sitz eines
lebhaften Verkehrs und Knotenpunkt wichtiger Eisenbahnlinien.
Die starke Festung bildet ein Hauptbollwerk gegen das benachbarte
Rußland. Einer gewissen Berühmtheit erfreut sich Thorn als Ge¬
burtsort des weltbekannten Sternkundigen Nikolaus Kopernikus,
dessen schlichtes Denkmal vor dem herrlichen Rathause von den Frem¬
den gern aufgesucht wird; auch die wohlschmeckenden Thorner Pfeffer¬
kuchen sind weithin bekannt und dürfen auf keinem preußischen
Jahrmärkte fehlen.
Kaum haben wir die Stadt im Rücken, da bietet sich uns
Gelegenheit, den bedeutenden Schiffahrtsverkehr auf dem Flusse
kennen zu lernen. Zahlreiche Lastkähne, schwer mit Getreide, Mehl,
Kohlen, Ziegeln oder Feldsteinen beladen, blähen ihre großen, weit¬
hin sichtbaren weißen Segel, um den regen Austausch der Handels¬
güter, namentlich auch mit Rußland, zu vermitteln. Große Fracht¬
dampfer aus Danzig durchfurchen geschäftig die gelben Fluten und
wollen die Bewohner der Weichselstädte mit Kolonialwaren aller
Art versorgen.
Da läßt der Führer unsers Schiffes warnend die Dampfpfeife
ertönen. Vor uns ziehen in langen Reihen breite Holzflöße, in
Westpreußen Trusten genannt, stromab. Sie kommen aus Ru߬
land und werden durch den Bromberger Kanal nach Berlin und
Stettin oder geradeswegs nach Danzig oder Elbing geflößt. Eine
solche Traft enthält Hunderte von Baumstämmen, die durch starke
Querleisten und dicke Strauchseile fest verbunden sind. Die Flöße
werden durch die Strömung des Wassers fortbewegt und mittels
langer, ruderartiger Stangen von kräftigen, wettergebräunten Ge¬
stalten gesteuert. Die Flößerknechte stammen zumeist aus Polen
oder Galizien und heißen im Volksmunde gewöhnlich Flissaken.
Ihre Kleidung besteht in der Regel nur aus weiten, grobleinenen
Hosen und einem hemdartigen Leinwandkittel, der bis zu den Knien
reicht und nicht selten die ganze Brust freiläßt. Die Ansprüche dieser
Leute an das Leben sind sehr bescheiden. Fast den ganzen Sommer
bringen sie auf dem Wasser zu und genießen kaum etwas andres als
Kartoffeln, Heringe, Brot und Branntwein. Bei schlechtem Wetter
gewähren ihnen niedrige Strohhütten Unterschlupf, während sonst
die Nächte häufig unter freiem Himmel oder an geschützten Stellen der
Weichselufer zugebracht werden. Ist das Reiseziel erreicht, und hat