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247. Theodor Fliedner.
Eines Abends — es war im Jahre 1832 — saß der junge Pfarrer der
armen Gemeinde Kaiserswerth,TheodorFliedner, in seiner
Studierstube, als es an seiner Tür klopfte. Ein armes, aus dem Gefängnis
entlassenes Mädchen bat ihn um ein Almosen. Vergebens hatte die Unglück¬
liche sich bemüht, bei reichen Leuten Arbeit und Unterkommen zu finden;
niemand mochte sie in Dienst nehmen, weil sie aus dem Gefängnisse kam.
Pfarrer Fliedner besaß nicht irdische Schätze, aber ein Herz voll Heilands¬
liebe für die Verlassenen. Er gab der Armen zunächst ein Abendbrot und
dann Obdach in seinem Gartenhäuschen. Am andern Tage verschaffte er
ihr durch seine Fürsprache auch Arbeit.
Er erkannte, wie schwer es den aus dem Gefängnisse entlassenen Frauen
wird, ein besseres Leben zu beginnen, weil sie sehr schwer unter unchristlichen
Vorurteilen leiden müssen. Darum nahm er sich dieser Verlorenen cut und
gründete ihnen ein Zufluchtshaus. Das nötige Geld dazu sammelte
er auf Reisen in Holland und England.
Den Armen und Kranken Hilfe zu bringen, erkannte er als seine Lebens¬
aufgabe. Jur Jahre 1835 richtete er in Düsseldorf die erste Kleinkinder¬
schule in Deutschland ein. Mit der (1836) zu Kaiserswerth errichteten
Kleinkinderschule verband er eine Anstalt zur Ausbildung von Kleinkinder¬
lehrerinnen. Sein Hauptwerk aber ist die Gründung der evangelischen
D i a k o n i s s e n a n st a l t zu Kaiserswerth.
Die Diakonissen (d. h. „Dienerinnen", weil sie dem Heilande dienen
wollen) sind die Barmherzigen Schwestern der evangelischen Kirche; sie sind
nicht auf Lebenszeit an ihren Beruf gebunden, sondern dienen ihrem Herrn
ofyte den Zwang eines Gelübdes in freier Liebestätigkeit bei Kranken, Armen
und Elenden aller Art. Zahlreiche ähnliche Anstalten haben sich nach dem
Muster der Kaiserswerther an vielen Orten gebildet, und die Zahl der
Schwestern, welche in allen Teilen der Welt arbeiten, beträgt gegen 10 000.
— In Kaiserswerth schließen sich an die genannten Anstalten noch an: ein
Krankenhaus, ein Seminar für Lehrerinnen, ein Waisenstift für Mädchen,
eine Heilanstalt für weibliche Gemütskranke u. a.
Im Jahre 1864 starb Pfarrer Fliedner; sein Gedächtnis lebt nicht nur
in diesen seinen Liebeswerken, sondern auch in zahlreichen erbaulichen
Schriften fort. Robert Wacber. (Hirts Lesebuch. Ausg. u von isöö.)