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konnte. — Sechs Stunden saßen wir dann beide allein in Furcht und
Finsternis, bis der Morgen anbrach, sechs lange, schreckliche Stunden,
deren Qualen nicht zu schildern sind. Mit dem letzten Wogenschwall
der hohen Flut, unter dem Jensens Haus zusammensank, war der
Sturm gebrochen, die Wut der vereinigten Elemente erschöpft. Als der
Tag kam, war das Wasser in sein Reich zurückgekehrt; die Warft lag
zerwühlt und zerspült vor uns. Ein paar Balken steckten schief in dem
Hügel, und die Hallig, von tiefem Schlamm bedeckt, von eingefressenen
Buchten und Rinnen zerschnitten, trat grau aus dem Meer hervor. Das
Kind lag unter meinem nassen Rocke fest eingeschlafen; mich schüttelte der
Frost im Fieber. Doch vergebens warf ich meine Blicke umher; kein
Boot, kein lebendiges Wesen zeigte sich; ich wußte nicht, ob es noch
Menschen gab, die diese Nacht überlebt hatten.
15. Endlich konnte ich es nicht länger ertragen; ich glitt an der
Dieme nieder und watete durch Schlamm und Schlick an der Warft
hinauf. In einer Bucht, die das Meer ausgehöhlt, spielten die Wellen
mit den bunten Fetzen eines Kleides, und als ich näher trat, allgütiger
Gott! da lagen sie, wie ich sie zuletzt gesehen, Jens, die Frau, die beiden
Kinder, fest umschlungen, doch blaß, kalt und tot; um sie her die Trümmer
ihres Glücks, Gebälk und Steine des Hauses, in dessen Frieden sie ge¬
wohnt, samt den Leibern der kleinen Herde, die sie ernährt hatte. Es
war ein banger, trauriger, ein tränenschwerer Tag, voller Weh und herz¬
zerreißender Klagen. Hundert Menschen waren auf den Halligen umge¬
kommen, viele auf den Inseln und in Dithmarschen; noch mehrere hatten
nur das nackte Leben davongetragen. Die Deiche brachen, die Marschen
liefen voll. Ich aber stand erst nach sechs Wochen von meinem Kranken¬
lager auf, so lange hielt das Fieber mich nieder."
„Und das Kind?" fragte ich, „was ist aus dem Kinde geworden?"
„Das ist mein herzliebstes Töchterchen bis auf diese Stunde", sagte
der alte Mann stolz und erfreut. „Ich habe sie groß gezogen. Dann
hat sie einen wackern Mann genommen, mit dem und drei schönen Buben
lebt sie froh in dem neuen Hause aus der Warft. Doch wenn ich komme,
geschieht es nie, ohne daß wir uns der wilden Nacht erinnern und um
die klagen, die verloren gegangen."
„Und sie fürchtet nicht, daß eine solche Nacht wiederkehrt?"
Der alte Mann schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie kennen die Leute
von den Halligen nicht", sagte er. „Da weiß jeder, daß es kommen
kann; aber alles Leben steht in Gottes Hand, und lieber das Leben ver¬
lieren als die Hallig, wo es so schön ist!"
Theodor Mügge. (Neues Schatzkästlein, II. Bändchen. Benzinger. Stuttgart.)