Object: [Dritter Teil = (6. bis 8. Schuljahr)] (Dritter Teil = (6. bis 8. Schuljahr))

253 — 
konnte. — Sechs Stunden saßen wir dann beide allein in Furcht und 
Finsternis, bis der Morgen anbrach, sechs lange, schreckliche Stunden, 
deren Qualen nicht zu schildern sind. Mit dem letzten Wogenschwall 
der hohen Flut, unter dem Jensens Haus zusammensank, war der 
Sturm gebrochen, die Wut der vereinigten Elemente erschöpft. Als der 
Tag kam, war das Wasser in sein Reich zurückgekehrt; die Warft lag 
zerwühlt und zerspült vor uns. Ein paar Balken steckten schief in dem 
Hügel, und die Hallig, von tiefem Schlamm bedeckt, von eingefressenen 
Buchten und Rinnen zerschnitten, trat grau aus dem Meer hervor. Das 
Kind lag unter meinem nassen Rocke fest eingeschlafen; mich schüttelte der 
Frost im Fieber. Doch vergebens warf ich meine Blicke umher; kein 
Boot, kein lebendiges Wesen zeigte sich; ich wußte nicht, ob es noch 
Menschen gab, die diese Nacht überlebt hatten. 
15. Endlich konnte ich es nicht länger ertragen; ich glitt an der 
Dieme nieder und watete durch Schlamm und Schlick an der Warft 
hinauf. In einer Bucht, die das Meer ausgehöhlt, spielten die Wellen 
mit den bunten Fetzen eines Kleides, und als ich näher trat, allgütiger 
Gott! da lagen sie, wie ich sie zuletzt gesehen, Jens, die Frau, die beiden 
Kinder, fest umschlungen, doch blaß, kalt und tot; um sie her die Trümmer 
ihres Glücks, Gebälk und Steine des Hauses, in dessen Frieden sie ge¬ 
wohnt, samt den Leibern der kleinen Herde, die sie ernährt hatte. Es 
war ein banger, trauriger, ein tränenschwerer Tag, voller Weh und herz¬ 
zerreißender Klagen. Hundert Menschen waren auf den Halligen umge¬ 
kommen, viele auf den Inseln und in Dithmarschen; noch mehrere hatten 
nur das nackte Leben davongetragen. Die Deiche brachen, die Marschen 
liefen voll. Ich aber stand erst nach sechs Wochen von meinem Kranken¬ 
lager auf, so lange hielt das Fieber mich nieder." 
„Und das Kind?" fragte ich, „was ist aus dem Kinde geworden?" 
„Das ist mein herzliebstes Töchterchen bis auf diese Stunde", sagte 
der alte Mann stolz und erfreut. „Ich habe sie groß gezogen. Dann 
hat sie einen wackern Mann genommen, mit dem und drei schönen Buben 
lebt sie froh in dem neuen Hause aus der Warft. Doch wenn ich komme, 
geschieht es nie, ohne daß wir uns der wilden Nacht erinnern und um 
die klagen, die verloren gegangen." 
„Und sie fürchtet nicht, daß eine solche Nacht wiederkehrt?" 
Der alte Mann schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie kennen die Leute 
von den Halligen nicht", sagte er. „Da weiß jeder, daß es kommen 
kann; aber alles Leben steht in Gottes Hand, und lieber das Leben ver¬ 
lieren als die Hallig, wo es so schön ist!" 
Theodor Mügge. (Neues Schatzkästlein, II. Bändchen. Benzinger. Stuttgart.)
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.