73
gezogen. Wie sie nun sahen, daß es ein Franzose war, hatten sie
ihm in der ersten Hitze beinahe ein Leid zugefügt. Das litt aber
der Deutsche nicht, sondern sagte: „Wir haben einander versprochen,
daß einer den andern retten wolle; er hätte es auch gethan, wenn
mich die Franzosen bekommen hätten!"
Diesen Vertrag, welchen die Freunde geschlossen, achteten
die Feinde, und er wurde zwar als Gefangener von Kriegsrechts
wegen fortgeführt, aber wie ein Kamerad von Kameraden gehalten.
106. Die halbe Flasche. .
(Karl Heinrich Caspari.)
Nach der Schlacht von Fehrbellin, in welcher die Schweden
von den Preußen geschlagen wurden, bat ein auf den Tod ver¬
wundeter Schwede einen vorübergehenden preußischen Soldaten
flehentlich um einen Trunk. „Den sollst du haben, Kamerad,"
sagte dieser. Während er aber die Feldflasche losnestelte, ergriff
der tückische Schwede eine neben ihm liegende Pistole und feuerte
sie unversehens auf den gutmütigen Preußen ab, fehlte ihn aber.
„Es war gut gezielt," sagte dieser, „denn die Kugel pfiff mir just
am Ohr vorbei, aber böse gemeint, und ich kann dich deswegen
nicht ungestraft lassen! Sieh, diese Flasche ist voll guten Weins,
und du hättest sie ganz bekommen; jetzt aber bekommst du sie nur
halb!" — Damit that der Preuße einen tüchtigen Schluck aus
derselben, gab sie dann dem Schweden und ging ruhig davon.
107. Der Widersacher als Rechtsanwalt.
(Heinrich. Zsehokke.)
Auf einem Dorfe des Kantons Schwyz kam einst an
einem Abende der Bauer Yelten zum Bauer Kaspar, welcher
auf seinem Felde arbeitete, und sagte : „Nachbar, jetzt ist
die Heuernte, und du weilst, daß wir einen Streit wegen
einer Wiese haben. Ich habe die Richter zusammenrufen
lassen, weil wir beide nicht gelehrt genug sind, um zu wissen,
wer von uns beiden recht hat. Komm also morgen mit mir
vor Gericht!“ — „Du siehst, Nachbar, dais ich die Wiese
gemäht habe, und morgen mufe ich, weil jetzt gutes Wetter
ist, das Heu in Haufen bringen; ich kann also unmöglich
mitgehen.“ — „Und ich kann die Richter nicht wieder gehen
lassen, da sie diesen Tag gewählt haben; auch kann das Heu
nicht eher abgeholt werden, bis wir wissen, wem die Wiese
gehört.“