Full text: Lesebuch für die Mittel- und Oberstufe (Teil 3, [Schülerband])

Zur Erinnerung an das Jahr 1888. 
den folgenden Stunden war die ganze Familie um dasselbe ver— 
sammelt. Noch einmal ließ der kranke Kaiser das sterbensmüde 
Auge über seine Lieben schweifen von einem zum andern, jedem 
noch einen Abschiedsblick schenkend. Dann befiel ihn ein tiefer 
Halbschlummer, der langsain und ruhig in den ewigen Schlaf 
hinüberleitete. Wenige Minuten nach 11 Uhr am Vormittage des 
15. Juni erstarb der letzte, kaum noch wahrnehmbare Atemzug — 
der kaiserliche Dulder haͤtte vollendet. 
Teilweise nach der Darstellung in „über Land und Meer“) 
Vater und Sohn. 
In seiner Ahnen Kreise 
im hohen Himmelssaal 
stand Wilhelm, ernst und leise 
schaut er aufs Erdenthal. 
Dort sah er banges Gehen 
im Schlosse eeee 
die Fahn' auf Halbmast wehen, — 
„o weh! — o weh, mein Sohn! — 
„Hab' während meines Lebens 
„gefleht bei Tag und Nacht; 
„äls alles dies vergebens, 
„hab' ich mich aufgemacht, 
„Beim Herrn für ihn zu 
„am hohen Himmelsthron; 
mun ist es doch geschehen! 
„Komm, komm zu mir, mein 
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en 
Sohn!“ 
Da trat vom Licht umgeben 
der fromme Dulder ein, 
umschließt — o himmlisch Leben — 
den lieben Vater sein. 
Sie halten sich umschlungen, 
der Vater und der Sohn, 
aus hunderttausend Zungen 
schalll's laut vor Goltes Thron: 
Vergessen ist hier oben 
der Erde Müh und Leid. 
Laßt preisen uns und loben 
den Herrn in Ewigkeit. 
Dort unten laßt sie schalten 
im deutschen Vaterland, 
das Reich wird ja erhalten 
Von Hohenzollern Hand. 
G. Schüler. 
Kaiser Wilhelm der Zweite. 
1. Die Thronbesteigung. 
Der 25. Juni 1888 wird unter den Gedenktagen des Deutschen 
Reiches stets hervorragen, denn an ihm legten die verbündeten 
deutfchen Fürsten durch ihre Anwesenheit bei der Eröffnung des 
Reichstages unmittelbar nach der Thronbestelgung Kaiser Wilhelms I. 
Zeugnis davon ab, daß das Deutsche Reich ein festgefügter Bau 
geworden sei, dem man eine lange Dauer voraussagen dürfe. 
Der Tag erschien gleichsam wie die Wiederholung der Kaiser— 
proklamation zu Versailles. 
Der Weiße Saal war mit den Zeichen der Trauer ausgestattet; 
auf den mit Purpursamt überzogenen Thronstufen stand der gleich⸗ 
falls mit Purpur übexzogene Thronsessel. Neben diesem befand sich 
der Sitz für die Kaiserin und der Platz für die deutschen Fürsten. 
Die Reichstagsabgeordneten waren zahlreich erschienen. Als der 
Kaiser eintrat erhob der Präsident des Reichstags den Ruf: Seine 
Majestät der Deutsche Kaiser, König Wilhelm von Preußen, und seine 
allechöchsten erhabenen Bundesgenossen leben hoch!“ Die Versamm— 
lung stimmte begeistert ein und der Kaiser verlas darauf die Thron— 
rede. Dieselbe wurde oft durch Beifall unterbrochen, besonders als
	        
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