Full text: Lesebuch für die mittlere und obere Stufe (Teil 3, [Schülerband])

33. Die Jugendjahre Kaiser Wilhelms J. 
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Schritt ans Land zu fragen: „Wie geht's meiner lieben Char— 
lolte?“ Man denke sich daher den Schrecken und die Angst des 
besorgten Pflegers, als er einst an einem Tage des zahlreichsten Be— 
suchs in das Gewächshaus tritt und die dem Könige so werte Blume 
vermißt. Sie war abgepflückt. 
Von Unruhe hin und her getrieben, den Thäter zu entdecken, stellt 
er sich an den Platz der Überfähre. Nicht lange, so nähert sich ein 
junget, wohlgekleideter Mann mit der Blume in seinem Knopfloche. 
Heiler und unbefangen, als wäre nichts Übles geschehen, schreitet er 
einher. Zur Rede gestellt über den von ihm begangenen Raub, ent— 
schuldigt er sich mit seiner Unwissenheit und bedauert und beklagt die 
boͤn ihm leichtsinnig verübte That. Der verantwortliche Hofgärtner 
aber füͤhrt den bestürzten jungen Mann in seine Wohnung und läßt 
den ganzen Thatbestand aufzeichnen und von Zeugen unterschreiben zu 
seiner Rechtfertligung vor dem Könige. 
Als dieser bald nachher zur Pfaueninsel kam und wie gewöhnlich 
fragte: „Was macht meine liebe Charlotte?“ und der Gärtner unter 
Thränen den Verlust meldete und den Hergang erzählte, umwölkten 
sich zwar des Königs Züge; er blieb aber doch ruhig und gelassen 
lind bemerkte nur, wie unrecht es sei, ihm auch seine kleinen Freuden 
zu verderben. Dem Volke war aber nach wie vor der Zutritt auf 
der Pfaueninsel erlaubt, wie sehr der gekränkte Beamte das Verbot 
auch empfehlen mochte. „Was können denn die andern dafür,“ ent— 
gegnelte der König, „wenn unter tausenden ein Ungezogener ist, der 
die verstattete Freiheit mißbraucht? Wozu denn diese Schönheiten, 
namentlich die schnell verblühenden Blumen, wenn außer mir niemand 
seine Freude daran hat? Ich kann nur selten hier sein.“ Als aber 
der Gaͤriner den Namen des Thäters nennen wollte, fiel der König 
schnell abwehrend ein: „Nein, nein, ich will den Namen gar 
nicht wissen; der könnte mir wieder einfallen, wenn der 
Mann später einmal etwas zu bitten haben sollte. Ver— 
gessen, vergeben!“ 
33. Die Jugendjahre Kaiser Wilhelms J. 
Gum 22. März.) 
1. Die Jugendjahre des Kaisers fallen wie die seines verstorbenen 
Bruders in die Zeil der schwersten Heimsuchung unseres geliebten 
Valerlandes. Er wurde am 22. März 1797 zu Berlin geboren 
und war der zweite Sohn des Königs Friedrich Wilhelm UI. 
Seine Mutter, die unvergeßliche Königin Luise, pflanzte früh— 
zeitig Mitleid und Erbarmen in das Herz ihrer Kinder und sah es 
Jern, wenn diese wohlthätig gegen Arme und Verlassene waren. 
Preußens Fürsten sind als gute Regenten auch immer tüchtige 
Feldherren gewesen. Damit sie das werden konnten, mußten sie von
	        
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