95
Nun war der leichtsinnige Uebermuth des Jünglings gebrochen; Schmerz
und Verzweiflung erfaßten ihn, und zerrissenen Herzens ritt er in's Va⸗
terhaus zurück.
Allein bald darauf führten die unglücklichen Eltern harte Klage wider
den Mörder ihres Kindes.
Der Ammeister bestieg den Richterstuhl und erkannte zu seinem Schrecken
in dem Angeklagten seinen eigenen Sohn.
Vergebens rang der Jüngling die Hände und bat um Gnade; ver⸗
gebens lehte für ihn die Menge des Volkes; vergebens selbst der Vater
des gelbdteten Kindes! — Der Ammeister drängte die Stimme im Vater⸗
herzen gewaltsam zurück und sprach, unbeugsam, wie Brutus, den Tod
über den eigenen Sohn aus.
Zum Andenken an diese Begebenheit wurde oben am Speiererthor
das Bild des Ammeisters auf dem Richterstuhl ausgehauen, und neben
dem Thor dasjenige des getödteten Kindes; und am Zollthore stellte
man den auf seinem Rosse einhersprengenden Jüngling dar.
Sagen des Elsaß, von A. Stöber.
29, Tischchen⸗deck'⸗dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack.
Vor Zeiten war ein Schneider, der drei Söhne hatte und nur eine ein⸗
zige Ziege. Aber die Ziege, weil sie alle zusammen mit ihrer Milch er—
nͤhrte, mußte ihr gutes Futter haben und täglich hinaus auf die Weide
geführt werden, und die Söhne thaten das nach der Reihe. Einmal brachte
sie der älteste auf den Kirchhof, wo die schönsten Kräuter standen, ließ sie
da fressen und herumspringen. Abends, als es Zeit war, heim zu gehen
fragte er: „Ziege, bist du satt?“ Die Ziege antwortete:
Ich bin so satt,
Ich mag kein Blatt: mäh! mäh!
So komm' nach Haus,“ sprach der Junge, faßte sie am Strickchen,
führle sie in den Stall und band sie fest.
„Nun,“ sagte der alte Schneider, „hat die Ziege ihr gehöriges Futter ?“
Oantwortete der Sohn, „die ist so satt, sie mag kein Blatt.“ Der
Vater wollte sich selbst überzeugen, ging hinab in den Stall, streichelte das
liebe Thier und fragte: „Ziege, bist du auch satt?“ Die Ziege antwortete:
Wovon sollt' ich satt sein?
Ich sprang nur über Gräbelein
Und jsand kein einzig Blättelein: mäh! mäh!
„Was muß ich hören!“ rief der Schneider lief hinauf und sprach zu
dem Jungen: „Ei! du Lügner, sagst, die Ziege wäre satt, und hast sie