Full text: Lesebuch für die Oberklassen der Elementarschulen in Elsaß-Lothringen

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was die Ziegen gern fressen. Da kannst du dich einmal nach Herzenslust 
sittigen“ sprach er zu ihr und ließ sie weiden bis zum Abend. Da fragte 
er „Ziege, bist du satt?“ Sie antwortete: 
Ich bin so satt, 
Ich mag kein Blatt: mäh! mäh! 
„So komm' nach Haus,“ sagte der Schneider, führte sie in den Stall 
und band sie fest Als er wegging, kehrte er sich noch einmal um und 
sagte Nun bist du doch einmal satt?“ Aber die Ziege machte es ihm 
nicht besser und rief: 
Wie sollt' ich satt sein? 
Ich sprang nur über Gräbelein 
Und fand kein einzig Blättelein: mäh! mäh! 
Als der Schneider das hörte, stutzte er und sah wohl, daß er seine drei 
Sbhne unschuldig verstoßen hatte. „Wart“ rief er, „du undankbares Ge— 
schöpf, dich fortzujagen ist noch zu wenig; ich will dich zeichnen, daß du 
dich inter ehrlichen Schneidern nicht mehr darfst sehen lassen.“ In einer 
hast sprang er hinauf, holte sein Bartmesser, seifte der Ziege den Kopf 
ein und schor sie so glatt wie eine flache Hand. Und weil die Elle zu eh⸗ 
kenvoll gewesen wäre, holte er die Peitsche und versetzte ihr solche Hiebe, 
daß sie in gewaltigen Sprüngen davonlief. 
II 
Der Schneider, als er so ganz einsam in seinem Hause saß, verfiel in 
hroße Traurigkeit und hätte seine Söͤhne gern wieder gehabt; aber Nie— 
mand wußte, wo sie hingerathen waren. Der älteste war zu einem Schrei⸗ 
ner in die Lehre gegangen; da lernte er fleißig und unverdrossen, und als 
sine Zeit herum war, daß er wandern sollte, schenkte ihm der Meister ein 
Tischchen, das gar kein besonderes Aussehen hatte und von gewöhnlichem 
holze war, aber es hatte eine gute Eigenschaft. Wenn man es hinstellte 
und sprach: „Tischchen, deck' dich!“ so war das gute Tischchen auf einmal 
mit einem saubern Tüchlein bedeckt, und da stand ein Teller und Messer 
und Gabel daneben und Schüsseln mit Gesottenem und Gebratenem, so 
hiel Plab hauen, und ein großes Glas mit rothem Wein leuchtete, daß 
Einem das Herz lachte. Der junge Gesell dachte: „Damit hast du genug 
für dein Leblag,“ zog guter Ding in der Welt umher und bekümmerte 
sich gar nicht darum, ob ein Wirthshaus gut oder schlecht war, ob Etwas 
rin zu finden war oder nicht. Wenn es ihm einfiel, so kehrte er gar 
nicht ein, sondern im Feld, imm Wald, auf einer Wiese, wo er Lust hatte 
nahm er sein Tischchen vom Rücken, stellte es vor sich und sprach: „Deck' 
dich !⸗ so war Alles da, was sein Herz begehrte. Endlich kam es ihm in 
den Sinn, er wollte zu seinem Vater zurückkehren, sein Zorn würde s. 
gelegt haben, und mit dem Tischchen⸗deck⸗dich würde er ihn gern wieder
	        
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