Full text: [Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband])

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Ausfall zu decken, und wenn im Winter die natürliche Kost 
gänzlich mangelt, so muss ich meine Gäste vollständig ernähren, 
um sie an den Platz zu fesseln. Allein die edlen Früchte eines 
einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen nicht kahl 
gefressen haben, decken die Nahrungskosten der Sänger, die mir 
ausserdem meine Mũbe durch ihre Zutraulichkeit und die dadurch 
erleichtorte Beobachtung ihres Lebens uncd Dreibens lohnen.“ — 
„Und uet zumn mindesten durch ihren Gesang,“ warf ich ein. 
habe in meinem Garten oft einen reineéren und 
reich⸗ a Genuls, als venn ich in Sälen der kunstreichsten Musik 
lausc war singt der Vogel in einem Käfig auch; denn er 
ist leichtlebig. Ir erschrickt leicht und heftig; aber Schrecken 
und Furcht sind bald vergessen. Munter hüptft er im Käsfig 
umher und trällert sein Lied, das er immer wiederholt. Aber 
dieser Gesang ist doch mehr ein Gesang der Gewohnheit als ein 
Gesang der Lust. Mein Garten ist ein ungeheurer Käfig ohne 
Draht, Stangen und Thürchen. Hier zwitschert jeder Vogel in 
reiner, voller Lebenslust seine Weise. Hier ergötze ich mich an 
dem Zusammentönen so vieler Stimmen, das in einem Zimmer 
beisammen wie ein wirres, misstönendes Geschrei erklingen würde. 
Aber wie häufig ist die Schönheit des Vogels und seines 
Gesanges das Unglück des Tierchens! Die Menschen sind nicht 
twa verhürte ogen diess Vorzüge; im Gegenteil, sie wollen sie 
geniesen, un voenn sie keinen Kafig mit unsichtbaren Drähten 
nde angen wachen können, so machen sie einen mit siehtbaren, 
in welchem r4 seinem zu frühen Tode entgegen singt. Die 
Menschen sind nicht gefühllos gegen die Stimme des Vogels, 
wohl aber gegen sein Leiden. Dazu kommt noch die Litelkeit, 
des enschen, eines Vogels, der durch seine Schwingen gleichsam 
aus Cam Eereiche menschlicher Macht gerückt ist, Herr zu werden 
und inn durch List und Geschicklichkeit in seine Gewalt zu 
bringea. Darum ist von altersher das Vogelstellen ein Vergnũgen 
gewest. besonders für junge Leute; aber es ist doch ein rohes, 
Ferächthches Vergnügen. Verabscheuungswürdig ist es aber, wenn 
man Sugvögel nicht um ihres Gesanges villen fängt, sondern 
umn den Gaumen mit einem Leckerbissen .,zu kitzeln. Die un- 
schuldigsten Tierchen, die durch ihren einschmeichelnden Gesang, 
ihr lebliches Wesen das Vergnügen der Menschen sein sollten, 
sie, die uns nur Wohlthaten erweisen, werden wie Verbrecher 
verfolgt, oder, wenn sie dem Driebe der Geselligkeit folgen oder 
hren Hunger stillen, überlistet und getötet. Dadurch beweist 
der Mensch, wie weit er noch von wahrer Gesittung entfernt ist.
	        
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