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Ausfall zu decken, und wenn im Winter die natürliche Kost
gänzlich mangelt, so muss ich meine Gäste vollständig ernähren,
um sie an den Platz zu fesseln. Allein die edlen Früchte eines
einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen nicht kahl
gefressen haben, decken die Nahrungskosten der Sänger, die mir
ausserdem meine Mũbe durch ihre Zutraulichkeit und die dadurch
erleichtorte Beobachtung ihres Lebens uncd Dreibens lohnen.“ —
„Und uet zumn mindesten durch ihren Gesang,“ warf ich ein.
habe in meinem Garten oft einen reineéren und
reich⸗ a Genuls, als venn ich in Sälen der kunstreichsten Musik
lausc war singt der Vogel in einem Käfig auch; denn er
ist leichtlebig. Ir erschrickt leicht und heftig; aber Schrecken
und Furcht sind bald vergessen. Munter hüptft er im Käsfig
umher und trällert sein Lied, das er immer wiederholt. Aber
dieser Gesang ist doch mehr ein Gesang der Gewohnheit als ein
Gesang der Lust. Mein Garten ist ein ungeheurer Käfig ohne
Draht, Stangen und Thürchen. Hier zwitschert jeder Vogel in
reiner, voller Lebenslust seine Weise. Hier ergötze ich mich an
dem Zusammentönen so vieler Stimmen, das in einem Zimmer
beisammen wie ein wirres, misstönendes Geschrei erklingen würde.
Aber wie häufig ist die Schönheit des Vogels und seines
Gesanges das Unglück des Tierchens! Die Menschen sind nicht
twa verhürte ogen diess Vorzüge; im Gegenteil, sie wollen sie
geniesen, un voenn sie keinen Kafig mit unsichtbaren Drähten
nde angen wachen können, so machen sie einen mit siehtbaren,
in welchem r4 seinem zu frühen Tode entgegen singt. Die
Menschen sind nicht gefühllos gegen die Stimme des Vogels,
wohl aber gegen sein Leiden. Dazu kommt noch die Litelkeit,
des enschen, eines Vogels, der durch seine Schwingen gleichsam
aus Cam Eereiche menschlicher Macht gerückt ist, Herr zu werden
und inn durch List und Geschicklichkeit in seine Gewalt zu
bringea. Darum ist von altersher das Vogelstellen ein Vergnũgen
gewest. besonders für junge Leute; aber es ist doch ein rohes,
Ferächthches Vergnügen. Verabscheuungswürdig ist es aber, wenn
man Sugvögel nicht um ihres Gesanges villen fängt, sondern
umn den Gaumen mit einem Leckerbissen .,zu kitzeln. Die un-
schuldigsten Tierchen, die durch ihren einschmeichelnden Gesang,
ihr lebliches Wesen das Vergnügen der Menschen sein sollten,
sie, die uns nur Wohlthaten erweisen, werden wie Verbrecher
verfolgt, oder, wenn sie dem Driebe der Geselligkeit folgen oder
hren Hunger stillen, überlistet und getötet. Dadurch beweist
der Mensch, wie weit er noch von wahrer Gesittung entfernt ist.