Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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Schöpfer denken, der für alles sorgt und solche Wunder in einem 
so kleinen und unscheinbaren Körper zu verbergen weiss? 
Das mag alles gut sein, denkt wohl mancher, wenn sie nur 
nicht giftig wären und läuft davon oder zertritt sie, wo er sie 
findet. Aber wer sagt denn, dass unsere Spinnen giftig seien? Noch 
kein Mensch ist in unsern Gegenden von einer Spinne gebissen 
worden. Gibt es nicht hie und da Leute, die sie aufs Brot strei¬ 
chen und verschlucken? Wohl bekomm’s, wem es schmeckt! Auch 
sonst thun diese Thierlein, die nur für die Erhaltung ihres eigenen 
Lebens besorgt sind, keinem Menschen etwas zu Leide. Im Gegen¬ 
theile leisten sie in der Natur einen grossen Nutzen, den man aber, 
wie es oft geschieht, nicht hoch anschlägt, weil jede einzelne wenig 
dazu beizutragen scheint. Es ist das Geringste, dass sie hie und 
da einer Stubenfliege den Garaus machen. Für diese wäre 
noch anderer Rath. Aber sie verzehren auch jährlich und täglich 
eine grosse Anzahl anderer sehr kleiner.Mücklein, die uns durch 
ihre Menge erstaunend beschwerlich und schädlich werden, und 
welcher man sich nicht erwehren könnte, wenn sie überhand nähmen. 
Sind nicht manchmal ganze Ackerfurchen mit Spinngeweben über¬ 
zogen und glänzen im Morgenthau? Da geht manches Mücklein zu 
Grunde, das die aufkeimende Saat vielleicht angegriffen und ver¬ 
letzt hätte. 
Ein Gefangener machte einst in seinem einsamen Kerker eine 
Spinne so zahm, dass sie seine Stimme kannte und allemal kam, 
wenn er sie lockte und etwas für sie hatte. Sie verkürzte ihm an 
einem Orte, wo kein Freund zu ihm kommen konnte, manche trau¬ 
rige Stunde. Aber als der Kerkermeister es merkte, brachte er sie 
um’s Leben. Was ist nun verabscheuungswürdiger, ein solches 
Thier, das doch noch einem Unglücklichen einiges Vergnügen machen 
kann, oder ein solcher Mensch, der dem Unglücklichen auch dieses 
Vergnügen missgönnt und zerstört? 
Ein anderer Gefangener, der sonst nichts zu thun wusste, gab 
lange Zeit auf die Spinnen acht und bemerkte, dass sie auch 
Wetter-Propheten seien. Bald liessen sie sich sehen und arbeiteten, 
bald nicht. Einmal spannen sie trag, ein andermal hurtig, lange 
l aden oder kurze, einmal näher zusammen, ein andermal weit aus¬ 
einander, so oder so, und endlich konnte er daran erkennen, was 
für Wetter käme, Sturm, Regen oder Sonnenschein, anhaltend oder 
veränderlich. 
Also auch dazu sind sie gut; und wenn sich jemand verwundet 
hat und findet geschwind ein Spinngewebe, das er auf die blutende 
Wunde legen kann, so ist er doch auch froh darüber. Wenn es 
rein ist, so kann es Blut und Schmerzen stillen. Wenn es aber 
voller Staub ist, so schmerzt es noch mehr, weil der unreine Staub 
in die Wunde kommt. 
Dass es mancherlei Thiere dieser Gattung gebe, sieht man 
schon an der Verschiedenheit ihres Gewebes in der freien Luft, 
an Fensterscheiben, in den Winkeln, auf den Feldern, da und dort.
	        
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