Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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2. Gleich und Gleich gesellt sjch gern. 
Das gilt von gut und bös. Sage mir, mit wem du umgehst, 
so will ich dir sagen, wer du bist. Ja, dein guter Freund kann 
dein ärgster Feind sein, wenn er dir auch weiter nichts zu leide 
thut — wenn er aber ein schlechter Mensch ist; denn die andern 
Leute sehen dich auch dann gar leicht als einen solchen an, ohne 
dass du einer sein magst — bloss deines Umganges wegen. Des¬ 
halb gib dich nicht mit jedermann ab. Wer gar sehr viel gescheiter 
oder gar sehr viel dümmer ist als du, der wird zu deiner Gesell¬ 
schaft nicht passen. Wer sehr viel mangelhafter oder sehr viel 
tugendhafter — doch ja, den letzten den such' auf; und will er 
sich zu dir gesellen, nun denn, in Gottes Namen. 
3. Sprichwort — wahr Wort. 
Jedoch nur für den, der es recht versteht. Man muss die 
W ahrheit heraus zu finden wissen, und die wahre, rechte Anwendung 
auch. Dann aber trifft’s den Nagel auf den Kopf, besser als stunden¬ 
lange Reden. Sprichwörter werden von Kaisern und Bettlern an¬ 
gewendet, von Hochgelehrten und Ungebildeten — und sie stehen 
jedem, freilich immer vorausgesetzt, dass jeder sie versteht. Sprich¬ 
wörter sind oft der Entscheid von Streit und Händeln, die letzten 
Trümpfe, die Zusammenfassung und Besiegelung von vielem Vorher¬ 
gegangenen. Den rechten Augenblick der Anwendung freilich muss 
man selbst finden, aber in diesem, rechten Augenblick ist sicherlich 
ein Sprichwort — ein wahr Wort. k. Ensim. 
116. Macht des Gebets. 
Das Schiff „Cornelia" befand sich ans einer Reife im Weltmeere 
und war bereits weit von der amerikanischen Küste entfernt, als ein Heftiger 
Sturm losbrach, der fünf Tage lang anhielt und das Schiff in eine solche 
Gefahr brachte, daß die Mannschaft sich fast für^verloren ansah. Gerade 
als das Unwetter am wütheudsten tobte und das Schiff wie einen Spielball 
haushoch hinauf- und hinabschleuderte, kam oben das Takelwerk am Haupt¬ 
mast in Unordnung, und der Schaden mußte zurechtgebracht werden. Doch 
in dem Tumult des Sturmwindes auf den Mast zu klettern, schien fast 
unmöglich; es war ein Wagestück auf Leben und Tod. Der Steuermann 
befahl kurzweg einem Schiffsjungen, er solle hinauf. Der war ein junger, 
zarter Bursche, kaum dreizehn Jahre alt. das einzige Kind einer armen 
Witwe, welche ihr Liebstes hatte in die Welt gehen lassen, weil sie selber 
kaum satt zu essen hatte. 
Als der Junge den Befehl vom Steuermann empfangen, hob er seine 
Mütze auf, blickte hinauf nach der Spitze des Mastes und wieder hinab 
in die schäumenden Wellen, die wie mit Ruthen gepeitscht übers Verdeck 
schlugen und nach ihm die Wasserarme ausstreckten; und dann sah er den 
Steuermann an. Er schwieg einen Augenblick; darauf sagte er: Ich komme 
gleich! — Und er sprang übers Verdeck fort in die Kajüte. Eine Minute 
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