Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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Schrecken der Stimme noch einen neuen fügen. — Er muß es geschehen 
lassen, daß der Löwe auch noch einen zweiten seiner arabischen Namen 
„sabaa", d. i. „Würger der Herden", bethätigt. 
Mit gewaltigem Satze überspringt der Mächtige die acht, ja selbst zehn 
Fuß hohe Dornenmauer, um sich ein Opfer auszuwählen. Ein einziger 
Schlag seiner furchtbaren Pranken fällt ein zweijähriges Rind; das kräftige 
Gebiß zerbricht dem widerstandslosen Thiere die Wirbelknochen des Halses. 
Dnmpfgrollend liegt der Räuber auf seiner Beute; die großen Augen funkeln 
hell vor Siegeslust und Raubgier; mit dem Schwänze peitscht er die Luft. 
Er läßt das verendende Thier auf Augenblicke los und faßt es mit seinem 
zermalmenden Gebiß von neuem, bis es sich endlich nicht mehr regt. Dann 
tritt er seinen Rückzug an. Er muß zurück über die hohe Umzäunung und 
will auch seine Beute nicht lassen. Seine ganze ungeheure Kraft ist er¬ 
forderlich, um mit dem Rind im Rachen den Rücksprung auszuführen. Aber 
er gelingt. Ich habe selbst einen neun Fuß hohen Zaun gesehen, über welchen 
der Löwe mit einem zweijährigen Rind im Rachen hinweggesetzt war; ich habe 
selbst den Eindruck noch wahrgenommen, welchen die schwere Last auf der 
Firste des Zaunes bewirkt hatte, und auf der andern Seite noch die Ver¬ 
tiefung im Sande bemerkt, welche das herabstürzende Rind zurückließ, bevor 
es der Löwe weiter schleppte. Mit Leichtigkeit trägt er eine solche Last 
seinem vielleicht eine halbe Meile weit entfernten Lager zu, und man sieht 
die Furche, welche ein so geschlepptes Thier im Sande zog, oft mit der 
größten Deutlichkeit bis zum Platze, an welchem es zerrissen wurde. 
Erst nach Abzug, des Löwen athmet alles Lebende in dem Lager freier 
auf; denn es schien geradezu durch die Furcht gebannt zu sein.- 
Ganz anders als bei Angriffen aus zahme Thiere benimmt sich der 
Löwe, wenn er es mit Wild zu thun hat. Er weiß, daß dieses ihn auf 
ziemliche Entfernung hin wittert und schnellfüßig genug ist, ihm zu ent¬ 
kommen. Deshalb lauert er aus die wildlebenden Thiere oder schleicht sich, 
oft in Gesellschaft mit anderen seiner Art, äußerst vorsichtig unter dem 
Winde an sie heran. Namentlich die Wasserplätze in den Steppen Mittel¬ 
und Südafrikas sind crgibige Iagdorte für ihn. 
Wenn der heiße Tag vorüber ist und die kühle Nacht sich allmählich 
herabsenkt, eilt die zierliche Antilope oder die mildäugige Giraffe, das ge¬ 
streifte Zebra oder der gewaltige Büffel, um die lechzende Zunge zu er¬ 
frischen. Vorsichtig nahen sie sich alle der Quelle oder der Lache; denn 
sie wissen, daß gerade diejenigen Orte, welche ihnen die meiste Labung bieten 
sollen, für sie die gefährlichsten sind. Ohne Unterlaß witternd und lauschend, 
scharf in die dunkle Nacht äugend, schreitet das Leitthier der Antilopenherdc 
dahin. Keinen Schritt thut es, ohne sich zu versichern, daß alles still und 
ruhig sei. Die Antilopen sind meistens schlau genug, ebenfalls unter dem 
Winde an die Quelle zu gehen, und so bekommt das Leitthier die Witterung 
oft noch zur rechten Zeit. Es stutzt, es lauscht, cs äugt, es wittert — 
noch einen Augenblick — und plötzlich wirft cs sich herum und jagt in 
eiliger Flucht dahin. Die anderen folgen; weitaus greifen die zierlichen 
Hufe, hochanf schnellen die federnden Läufe der anmuthigen Thiere. Über 
Busch und Grasbüschel setzen die Behenden dahin und sind gerettet. So 
naht sich auch das kluge Zebra, so naht sich die Giraffe: aber wehe ihnen,
	        
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