Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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Schläfer schlafen im Freien. Man braucht kein dumpfes Haus; jede Staude macht 
man zur Stube und hat dabei gar die guten, emsigen Bienen vor sich und die präch¬ 
tigen Zweifalter. Wegen des Jagdverbotes wird nichts geschossen, und alles..Leben 
in Büschen und Furchen und auf Ästen kann sich so recht sicher ergötzen. Überall 
kommen Reisende auf allen Wegen daher, haben die Wagen meist zurückgeschlagen, 
den Pferden stecken Zweige im Sattel und den Fuhrleuten Rosen im Munde. Die 
Schatten der Wolken laufen; die Vögel fliegen dazwischen auf und ab; Handwerks¬ 
burschen wandern leicht mit ihren Bündeln und brauchen keine Arbeit. Sogar im 
Regenwetter steht man sehr gern draußen und riecht die Erquickung, und es schadet 
den Viehhirten die Nässe weiter nicht. Und ist's Nacht, so sitzt man nur in einem 
kühlern Schatten, von wo aus man den Tag deutlich sieht am nördlichen Horizonte 
und an den süßen Himmelssternen. Wohin ich nur blicke, so finde ich mein liebes 
Blau, am Flachs in der Blüte, an den Kornblumen und am göttlichen, unendlichen 
Himmel, in den ich gleich hineinspringen möchte wie in eine Flut. — Kommt man 
nun wieder nach Hause, so findet sich in der That frische Wonne. Die Gasse ist eine 
wahre Kinderstube. Sogar abends nach dem Essen werden die Kleinen wieder ins 
Freie gelassen und nicht wie im Winter unter die Bettdecke gejagt. Man ißt am Tage 
und weiß kauni, wo der Leuchter steht. Im Schlafzimmer sind die Fenster Tag und 
Nacht offen, auch die meisten Thüren ohne Schaden. Die ältesten Weiber stehen ohne 
Frost am offenen Fenster und nähen. Überall liegen Blumen: neben dem Tintenfaß, 
auf den Acten, auf den Sessions- und Ladentischen. Die Kinder lärmen sehr, und 
man hört das Rollen der Kegelbahnen. Die halbe Nacht acht man auf den Gassen 
auf und ab und sieht die Sterne am hohen Himmel schießen. — O Gott, welches 
Freudenleben auf dieser kleinen Erde! Je«n Paul Friedrich Richter. 
297. Bon der Freundschaft. 
Ich habe dir in der vorigen Lection die Feindschaft erklärt, und wie 
man dazu gelangen könne, und wann ein ehrlicher Kerl sich nicht scheuen 
müsse. Heute von der Freundschaft. 
Von der spricht nun einer, sic sei überall; der Andere, sie sei nirgends; 
und es steht dahin, wer von beiden am ärgsten gelogen hat. _ 
Wenn du Paul den Peter rühmen hörst, so wirst du finden, rühmt 
Peter den Paul wieder, und das heißen sie denn Freunde. Und ist oft 
zwischen ihnen weiter nichts, als daß einer den Andern kratzt, damit er 
ihn wieder kratze, und sie sich so einander wechselweise zu Narren haben; 
denn, wie du siehst, ist hier, wie in vielen andern Fällen, ein jeder nur 
sein eigener Freund, und nicht des Andern. Ich pflege solch Ding 
„Hollunder-Freundschaften" zu nennen. Wenn du einen jungen Hollunder- 
zwcig ansiehst, so sieht er sein stämmig und wohl gegründet aus; schneidest 
du ihn aber ab, so ist er inwendig hohl, und ist so ein trocken schwammig 
Wesen darin. 
So ganz rein geht's hier freilich selten ab, und etwas Menschliches 
pflegt sich wohl mit einzumischen; aber das erste Gesetz der Freundschaft 
soll doch sein, daß einer des Andern Freund sei. 
Und das zweite ist, daß du's von Herzen seiest, und Gutes und 
Böses mit ihm theilest, wie's vorkommt. Die Delicatessc, da man diesen 
und jenen Gram allein behalten, und seines Freundes schonen will, ist 
meistens Zärtelei; denn eben darum ist er dein Freund, daß er mit 
untertrete und es deinen Schultern leicht mache. 
Drittens, laß du deinen Freund nicht zweimal bitten. Aber wenn's 
Noth ist und er helfen kann, so nimm du auch kein Blatt vors Maul, 
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