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zu greifen. Ja, es gibt sogar Alpen, zu denen ein Haupt Vieh nach dem
andern wie Waarcnballcn am Flaschcnzuge des Krahnen über hohe Felscn-
wände hinabgelassen werden müssen.
Schmucklos, einfach, wie ein Wurf aus freier Hand, traulich und ein¬
ladend wie ein herzlicher Gruß des Willkommens auf den Matten, mitunter
sogar theatralisch-malerisch liegt das schützende Dach der stillen Sennhütten
im Kräutermeer der Alpweide da. Der ganze Ban ist in den wälder-
reichen Gegenden durchaus Blockhausconstrnction, also lediglich aus Holz
errichtet, das von der langjährigen Wirkung der Sonnenstrahlen tief ge¬
bräunt wurde. Nur der wenige Fuß hohe Unterbau ist grobes Stein¬
gefüge. Über diesem einstöckigen, kunstlosen Erdgeschoß, das seiner un-
gesuchten Natürlichkeit halber ganz mit der in ihrer Einfachheit majestätischen
und erhabenen Gebirgswelt harmoniert, ruht das flache, silbergrau-glänzende,
derbe Schindeldachs Es ist mit schweren Steinen belastet, damit der
wilde Föhn, des Älplers „ältester Landsmann", wenn er aus dem Süden
warm einherbraust, über die Felsenklippen niederstürzend sich in die Berg¬
mulden einbohrt und
— „feine Donnerwürfe wirft,
Daß Wald und Fels herunterbricht erschrocken," —
die Friedenshütte unangetastet lasse. Diese ist des Sennen und seiner Ge¬
hülfen Asyl während der Sommermonate. In denjenigen Alpen, wo gute
Ordnung herrscht und für das Vieh vorsorgliche Einrichtungen getroffen
wurden, sind nahe bei der Sennhütte „Gaden" oder Stallungen errichtet,
in denen die Heerde während der wilden Wetter eingestellt wird. Nicht
überall aber hat man solche Einrichtungen getroffen, und es gibt noch Alpen
genug, in denen die Wcttcrtanne der einzige Znfluchtswinkel des armen
Viehs während der Hitze und der furchtbaren Hochgewitter ist. Die dem
Gebirgsbewohner angeborene und anerzogene Lässigkeit vermag es nicht zu
überwinden, daß irgend eine Neuerung in der Alp vorgenommen werde.
Wie es zu „Pfuchhähni's" (Ur-Urgroßvaters) Zeiten war, so wird die
Alpenwirthschaft auch heute noch betrieben.
Jst's irgend thnnlich, so wird die Sennhütte an einen Felscnklotz gebaut
oder, wenn er überhängt, sogar zum Theil unter denselben geschoben, um
einen recht kühlen Platz für den Milchkeller zu gewinnen. Rinnt vollends
gar ein frischer Quell oder eisiger Gletschcrbach in der Nähe, so leitet
der Älpler das Wasser gern durch sein Magazin, um die von der Milch
gesäuerte Luft durch die entstehende Ventilation zu entfernen und dagegen
frische, dem Wasser entströmende Lufttheilchcn dem Gemache zuzuführen.
Die nächste Umgebung einer Sennhütte ist fast immer ein bodenloser Koth,
in dem Alpensauerampfer wuchernd wächst/ Das Innere entspricht in den
meisten Fällen dieser unsauberen Umgebung. Denn Reinlichkeit und Akkuratesse
sind allenthalben nichts weniger als hervorragende Eigenschaften viehzüchtender
Völker, und der Älpler bestrebt sich durchaus nicht, hierin als Ausnahme zu
erscheinen. Der leuchtende, farbenheitere Festtagsanzug, der das Auge bei
der Auffahrt so anregend ergötzte, ist verschwunden. Weite, derblcinene
Beinkleider, die in allen Schattirungcn der Stallbeschäftigung schillern, und
ein gleiches Futterhemd, d. h. eine blousenähnliche Jacke ohne Schlitz ans
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