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Straßen und Wegen, in Gärten und Feldern mangelt, da ist die Natur eines
Schmuckes beraubt, der durch anderes nicht zu ersetzen ist — Die Obstbaumzucht
ist aber auch ein Gegenstand vielseitigen Nutzens. — Das Obst ist eine höchst
schätzbare und gesunde Zugabe zur Speise der Land— und Stadtbewohner.
Wie erfrischt und erquickt es den Dürstenden und Arbeitsmüden in heißen
Sommer⸗ und Herbsttagen, und welches Labsal ist es dem Kranken in seiner
Fieberglut!
ünsere edlen Obstsorten stammen, wie unsere meisten Getreidearten und
Gartengewächse, aus den wärmeren Gegenden Asiens, insbesondere aus den
10 Ländern am südlichen Fuße des Kaukasus. Unter allen landwirtschaftlichen
Gewächsen sind die Obstbäume nicht nur am meisten der Veredlung fähig,
sondern sie lassen auch den allgemeinsten Anbau zu, da für jeden Boden und
für jedes Klima angemessene Sorten gewählt werden können. Die Obstbaum—
zucht verdient es in hohem Grade, daß wir ihr unsere Aufmerksamkeit zu—
benden. Der Greis noch wird erfreut durch den Anblick eines Baumes, den
er in seiner Jugend gepflanzt oder veredelt hat.
Bei dem Veredeln fügt man einem Wildling einen Zweig oder ein
Auge von einem edlen, vorzügliche Früchte tragenden Stamme so ein, daß
der eingesetzte Teil des Edelstammes vom Wildstamme Saft und Kraft erhält
20 und sich zum edlen Baume entwickelt. Soll die Veredlung ihren Zweck erreichen,
so müssen das Edelreis und der Wildling in Rücksicht auf den Bau der Saft⸗
gefäße, auf die Beschaffenheit des Holzes und der Rinde, sowie auf die Frucht
von einerlei Art sein.
Die vorzüglichsten Veredelungsarten, welche unter den vielen am meisten in
25 Anwendung kommen, sind: Das Dkulieren, das Pfropfen und das Kopulieren.
SDas Qktulieren ist die leichteste und wichtigste Veredlungsart, die
bei allen Obstsorten, ausgenommen bei Nüussen, angewendet werden kaun. Sie
verursacht dem Baum nur eine kleine Wunde in die Rinde und stört darum
das Wachstum am wenigsten. Das Okulieren kann vorgenommen werden,
wenn der Sast sich zwischen dem Holze und der Rinde sehr angehäuft hat,
so daß sich die Rinde leicht ablöst. Man okuliert im Frühjahr, zehn Tage
vor bis vierzehn Tage nach Johanni und im August. Das Okulieren in den
beiden ersten Zeiten heißt das Okulieren auf das treibende Auge, weil
das Auge noch in dem nämlichen Jahre einen Zweig treibt. Das Okulieren
im August heißt das Okulieren auf das schlafende Auge, weil das ein—
gesetzte Auge bis zum künftigen Frühjahr unentwickelt bleibt.
Die besten Tageszeiten sind die Morgen— und die Abendstunden. Be—
sonders günstig beim Hkulieren ist trocknes, kühles, trübes Wetter, welchem
Gewitterregen vorausgegangen sind. Regenwetter verhindert das Anwachsen des
10 Auges, weil die Nässe den klebrigen Saft durchwässert und ihm die Kraft
zum Anwachsen nimmt.
Die Edelreiser, von welchen die Augen genommen werden, müssen junge,
saftige Sommerschosse von gefunden, fruchtbaren Bäumen sein. Man nimmt
fie frisch von der sonnenreichsten Seite des Baumes und stellt sie bei heißer
Witterung mit dem untern Teile in Wasser. Sie sollen nicht über drei Tage alt
werden. Von diesen Zweigen wählt man zur Veredlung nur die mittlern,
großen und kräftigen Augen.