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In diesem Glaucha lag das Evangelium und alle fromme Zucht
und Sitte sehr am Boden, und das Volk daselbst war verwildert.
Da machte sich Francke in Gottes Namen mit unverdrossener Emsig¬
keit daran, den alten Sauerteig der Bosheit auszufegen, sonntags
und alltags, von der Kanzel herab und in den Häusern mit heiligem
Zürnen und mit leutseliger Lindigkeit. Auch war wenig Fleiß, aber
desto mehr Bettelei in seiner Gemeinde.
5. Wie er nun hier darauf kam, sein großes Werk zu beginnen und aus¬
zurichten, das erzählt er selber mit folgenden Worten: „Es war vor¬
malen in Halle sowohl, als in der Vorstadt Glaucha gewöhnlich, daß die
Leute einen gewissen Tag bestimmten, an welchem die Armen zugleich vor
ihre Thür kommen und die Almosen abfordern sollten. Weil nun solches
in meiner Nachbarschaft des Donnerstags geschah, so kamen die armen
Leute von selbst darauf, daß sie an eben dem Tage auch vor meiner
Thür sich versammelten. Ich ließ ihnen eine Zeit lang vor der Thür
Brot austeilen, bedachte aber dabei, daß dieses doch eine erwünschte Ge¬
legenheit sei, den armen Leuten auch an ihren Seelen durchs Wort Gottes
zu helfen. Als sie daher einstmals auch vor dem Hause auf die leiblichen
Almosen warteten, ließ ich sie alle ins Haus kommen, hieß auf eine Seite
die Alten, auf die andere das junge Volk treten und fing sogleich an,
die jungen freundlich zu fragen aus deni Katechismus Lutheri von dem
Grunde ihres Heils. Die Alten ließ ich nur zuhören, brachte mit solcher
Unterredung etwa eine Viertelstunde zu, schloß mit einem Gebete, teilte
daraus die Gaben aus, sagte ihnen, daß sie künftig immer das Geistliche
und Leibliche zugleich haben sollten, und ermahnte sie, allzeit des Donnerstags
in meinem Hause zu erscheinen, welches sie dann auch thaten. Dieses ist
zu Anfang des Jahres 1694 geschehen. Hierzu kam, daß mir die Not
der Hausarmen sehr zu Herzen ging. Um diesen auf einige Weise zu
dienen, ließ ich in der Wohnung des Pfarrhauses eine Büchse festmachen
und oben darüber schreiben: „Wenn jemand dieser Welt Güter hat und
siehet seinen Bruder darben und schleußt sein Herz vor ihm zu, wie
bleibet die Liebe Gottes bei ihm?" Und darunter: „Ein jeglicher nach
seiner Willkür, nicht mit Unwillen oder Zwang; denn einen fröhlichen
Geber hat Gott lieb." Dieses sollte diejenigen, so bei mir ein- und aus¬
gingen, erinnern, ihr Herz gegen die Armen auszuschließen. Da geschah
es nach kurzer Zeit, daß jemand auf einmal sieben Gulden in meine
Armenbüchse warf. Als ich dieses Geld in die Hände nahm, sagte ich:
„Das ist ein ehrlich Kapital; davon muß man etwas Rechtes stiften. Ich
will eine Armenschule damit anfangen." Ich fuhr im Glauben zu und
machte noch desselben Tages Anstalt, daß für zwei Thaler Bücher gekauft
wurden; auch bestellte ich einen armen Studenten, die verlassenen Kinder
täglich zwei Stunden zu unterrichten."