Full text: Oberstufe, Unterabteilung, (2. Klasse der Berliner Gemeindeschule) (Teil 4, [Schülerband])

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145. Lertha. 
Im Baltischen Meere lag ein liebliches Eiland. Bichen, fast so alt 
wie der Boden, auf dem sie entsprossen, und gewaltige Buchen beschat- 
teten dasselbe. Von bemoosten Hügeln umgeben, lag niecht fern vom 
Rande der Insel im Schatten der Bäume ein Klarer, fast zirkelrunder 
See. Am nördlichen Ufer desselben erhob sich mit ihren hohen Wällen 
die Herthaburg. Sie war der Sitz der Göttin Hertha, der Geberin alles 
Segens in Feld und Wald. Dralte Buchen bildeten rund herum jenen 
heiligen Hain, dessen Innerstes nur der Fuss des Priesters betrat. Liefe 
Stille herrschte in dem dunkeln Schatten der Bäume, und kein Unein- 
geweihter wagte, dieselbe zu unterbrechen. 
Wenn aber mit dem wiederkehrenden Lenze die erstarrte Erde unter 
den erwärmenden Strahlen der Sonne erwachte und die schlummernden 
Kinder des Frühlings von ihrem langen Winterschlafe erstanden, wenn 
Tausende der befiederten Säünger ihre Lieder erschallen liessen zum Lobe 
der schaffendeen Hertha, siehe, dann tauchten ganze Scharen riesiger 
Männergestalten aus dem Dunkel der Walder hervor, in stiller Erwartung 
dem heiligen Haine sich nahend. 
Wer sind diess Männer? Es sind die Ureinwohner unseres Vater- 
landes. Sie sind gekommen, um das Frühlingsfest zu felern zur Ehre 
ihrer Göttin Hertha. Schon ist diess — das haben die Priester geschaut, 
und verkündigt — herabgestiegen auf ihren Wagen im heiligen Haine; 
schon haben die Priester den Wagen bespannt mit den geweihten Kühen 
und ihn bedeckt mit köstlichen Teppichen. Erwartungsvoll steht die 
Menge. Da naht der Zug der Priester mit dem Wagen der Göttin, 
welehe, unbemerkt von dem Volke, sich freut über ihre Schöpfung und 
über die Zeichen der Verehrung, die man ihr zollt. So fährt sie auf der 
Insel umher. 
Da waren denn die Tage fröhlich und die Orte festlich, welche die 
Göttin mit ihrer Gegenwart beglückte; man zog in keinen Krieg, ergriff 
keine Waffen zum Kampfe; alles Eisen ruhte, man kannte nur Priede 
und Ereude. War der Wagen mit der Göttin vorüber, dann belustigte 
man sich auf mancherlei Weise. Dort tanzten nackte Jünglinge zwischen 
aufgestellten Schwertern; hier unterhielt man sich durch das beliebte 
Würfelspiel. Da sassen und tranken sie aus dem Horne des Ur den be— 
rauschenden Met und lauschten auf den Gesang des Skalden, welcher in 
Liedern die Heldenthaten der Dapfersten besang. 
Wenn aber die Göttin des Umgangs mit den Sterblichen müde 
war, dann führten die Priester den Wagen zurück in das Innerste des 
Hains. Dort wurde sie nebst Wagen und Teppichen in dem geheimnis- 
vollen See gebadet. Die Sklaven, welehe man dabei gebrauchte, kehrten 
nie zurück; sie wurden von dem See verschlungen. Daher entstand denn 
ein geheimes Grauen und eine heilige Scheu vor dem, das nur die sehauen 
durften, welehe starben. 
Jene Insel des „heiligen Haines“ steht noch im MNeere; sie ist das 
lieblichste Liland der Ostsee. Ihr Name ist Rügen und noch wird ger—
	        
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