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Jetzt flammt und leuchtet es am ganzen östlichen Himmel; das sind
die Flügel der Morgenröte. Und dann kommt die Sonne.
Wach' auf, mein Herz, und singe
Dem Schöpfer aller Dinge,
Dem Geber aller Güter,
Dem frommen Menschenhüter!
Und weit und breit ist alles munter. Sogar aus den
eutfernteren Dörfern sind die Mäher schon zur Stelle. Die Sensen
rauschen, und die Blümlein sinken. Und wie schön hat der liebe
Gott sie auch an ihrem letzten Morgen geschmückt, und auch nicht
das kleinste Hälmchen hat er vergessen. Alles ist mit tausend und
abertausend Perlen übersät, und die ganze Wiese glitzert und leuchtet
in den prächtigsten Farben des Himmels.
Höher und höher steigt die Sonne. Die Tauperlen sind ver—
schwunden, nur hier und da steht ein Blümchen in seinem
Sabbathschmucke. Da ziehen von allen Seiten singende Mädchen
und plaudernde Frauen heran. Sie tragen Harken in den
Händen, und ihre weißen Schürzen leuchten im Glanze der
Morgensonne über die ganze Wiese. Jeht beginnen auch sie
die Arbeit. Die Schwaden fliegen nur so aneinander und
wieder auseinander. Hierhin und dahin wird das Gras ge—
worfen und gekehrt bis in den späten Nachmittag hinein. Und
als es Abend ist, da stehen die Gras- und Heuhaufen in unab—
sehbaren Reihen fest in Reih' und Glied wie Soldaten auf dem
Paradeplatze.
So geht's einen Tag um den andern, bis „das Gras verwelkt
und die Bluͤme verdorret ist“, d. h. bis das Gras zu Heu ge—
worden ist. Da klappern und rasseln auf allen Wegen die Wagen
heran, um den reichen Gottessegen unter Dach und Fach zu bringen.
Von Schwerin und Parchim, Trivitz und Neustadt und aus allen
umliegenden Dörfern sind Fuhrwerke da. Die hochbeladenen
Fuder scheinen aus der Erde zu wachsen, und jedes ist ein Amen
zu dem Gratias: „Der allem Fleische Speise giebt.“ Und auf
Elde und Friedrich-Franz-Kanal, auf Stör und Stör-Kanal ziehen
hoch mit Heu beladene Kähne von dannen.
Schließlich hat der letzte Wagen die Wiese verlassen. So
laut es die Erntetage hindurch gewesen ist, so still und leblos ist
es jetzt. Erst ganz allmählich wagt sich ein Hirsch oder Reh, ein
Fuchs oder Häslein wieder aus dem Forste. Selbst den Störchen
scheint es in der Wiese unheimlich zu sein. Hier und da steht
freilich noch einer und schaut wie gedankenschwer in die Welt hinein,
aber bald klappern sie das Abschiedssignal, und fort geht's in das
ferne Land, welches so viele von ihnen noch nimmer gesehen haben
und wohin sie sich doch alle sehnen.
So hält die Lewitz den Menschenkindern alle Jahre eine lange
Predigt, und der Text derselben lautet:
„Das Heu verdorret, die Blume verwelket, aber das Wort
unseres Gottes bleibet ewiglich.“ Jes. 40, 8.