Full text: [Abteilung 2, [Schülerband]] (Abteilung 2, [Schülerband])

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Jetzt flammt und leuchtet es am ganzen östlichen Himmel; das sind 
die Flügel der Morgenröte. Und dann kommt die Sonne. 
Wach' auf, mein Herz, und singe 
Dem Schöpfer aller Dinge, 
Dem Geber aller Güter, 
Dem frommen Menschenhüter! 
Und weit und breit ist alles munter. Sogar aus den 
eutfernteren Dörfern sind die Mäher schon zur Stelle. Die Sensen 
rauschen, und die Blümlein sinken. Und wie schön hat der liebe 
Gott sie auch an ihrem letzten Morgen geschmückt, und auch nicht 
das kleinste Hälmchen hat er vergessen. Alles ist mit tausend und 
abertausend Perlen übersät, und die ganze Wiese glitzert und leuchtet 
in den prächtigsten Farben des Himmels. 
Höher und höher steigt die Sonne. Die Tauperlen sind ver— 
schwunden, nur hier und da steht ein Blümchen in seinem 
Sabbathschmucke. Da ziehen von allen Seiten singende Mädchen 
und plaudernde Frauen heran. Sie tragen Harken in den 
Händen, und ihre weißen Schürzen leuchten im Glanze der 
Morgensonne über die ganze Wiese. Jeht beginnen auch sie 
die Arbeit. Die Schwaden fliegen nur so aneinander und 
wieder auseinander. Hierhin und dahin wird das Gras ge— 
worfen und gekehrt bis in den späten Nachmittag hinein. Und 
als es Abend ist, da stehen die Gras- und Heuhaufen in unab— 
sehbaren Reihen fest in Reih' und Glied wie Soldaten auf dem 
Paradeplatze. 
So geht's einen Tag um den andern, bis „das Gras verwelkt 
und die Bluͤme verdorret ist“, d. h. bis das Gras zu Heu ge— 
worden ist. Da klappern und rasseln auf allen Wegen die Wagen 
heran, um den reichen Gottessegen unter Dach und Fach zu bringen. 
Von Schwerin und Parchim, Trivitz und Neustadt und aus allen 
umliegenden Dörfern sind Fuhrwerke da. Die hochbeladenen 
Fuder scheinen aus der Erde zu wachsen, und jedes ist ein Amen 
zu dem Gratias: „Der allem Fleische Speise giebt.“ Und auf 
Elde und Friedrich-Franz-Kanal, auf Stör und Stör-Kanal ziehen 
hoch mit Heu beladene Kähne von dannen. 
Schließlich hat der letzte Wagen die Wiese verlassen. So 
laut es die Erntetage hindurch gewesen ist, so still und leblos ist 
es jetzt. Erst ganz allmählich wagt sich ein Hirsch oder Reh, ein 
Fuchs oder Häslein wieder aus dem Forste. Selbst den Störchen 
scheint es in der Wiese unheimlich zu sein. Hier und da steht 
freilich noch einer und schaut wie gedankenschwer in die Welt hinein, 
aber bald klappern sie das Abschiedssignal, und fort geht's in das 
ferne Land, welches so viele von ihnen noch nimmer gesehen haben 
und wohin sie sich doch alle sehnen. 
So hält die Lewitz den Menschenkindern alle Jahre eine lange 
Predigt, und der Text derselben lautet: 
„Das Heu verdorret, die Blume verwelket, aber das Wort 
unseres Gottes bleibet ewiglich.“ Jes. 40, 8.
	        
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