270 Neudeutsche Literatur—
der Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer
anders erscheinen und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblick—
lichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden,
und kann die Ursache einer folgenden, und sonach gleichsam das Centrum
einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nach—
ahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper. — Auf der andern Seue
können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen
Wesen anhängen. Insofern nun diese Wesen Körper sind, oder als Körper
betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungs—
weise durch Handlungen.
Die Malerei kann in ihren coexistirenden Compositionen nur einen ein⸗
zigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den prägnantesten
wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten
wird. — Eben so kann auch die Poesie in ihren fortschreitenden Nach⸗
ahmungen nur eine einzige Eigenschaft der Körper nutzen, und muß daher
diejenige wählen, welche das sinnlichste Bild des Körpers von der Seite ec
weckt, von welcher sie ihn braucht. Hieraus fließt die Regel von der Einheit
der malerischen Beiwörter und der Sparsamkeit in den Schilderungen körper⸗
licher Gegenstände.
Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung
mannichfaltiger Theile, die sich auf einmal übersehen lassen. Sie erforden
also, daß diese Theile neben einander liegen müssen; und da Dinge, deren
Theile neben einander liegen, der eigentliche Gegenstand der Malerei sind,
so kann sie, und nur sie allein, körperliche Schönheit nachahmen.
Der Dichter, der die Elemente der Schönheit nur nach einander zeigen
könnte, enthält sich daher der Schilderung körperlicher Schönheit, als Schoͤn—
heit, gänzlich. Er fühlt es, daß diese Elemente, nach einander geordnet,
unmöglich die Wirkung haben können, die sie neben einander geordnet haben;
daß der concentrirende Blick, den wir nach ihrer Enumeration auf sie zu
gleich zurücksenden wollen, uns doch kein übereinstimmendes Bild gewährt;
daß es über die menschliche Einbildung geht, sich vorzustellen, was dieser
Mund und diese Nase, und diese Augen zusammen für einen Effect haben,
wenn man sich nicht aus der Natur oder Kunst einer ähnlichen Composition
solcher Theile erinnern kann. Und auch hier ist Homer das Muster aller
Muster. Er sagt: Nireus war schön; Achilles war noch schöner; Helena
besaß eine göttliche Schönheit. Aber nirgends läßt er sich in die umständ—
lichere Schilderung dieser Schönheiten ein. Gleichwohl ist das ganze Gedicht
auf die Schönheit der Helena gebaut. Wie sehr wuͤrde ein neuerer Dichter
darüber luxurirt haben!
Aber verliert die Poesie nicht zu viel, wenn man ihr alle Bilder kör—
perlicher Schönheit nehmen wille Wer wil ihr die nehmen? — Wenn
man ihr einen einzigen Weg zu verleiden sucht, auf welchem sie zu solchen
Bildern zu gelangen gedentt, indem sie die Fußtapfen einer verschwisterten
Kunst aufsucht, in denen sie ängstlich herumirrt ohne jemals mit ihr das
gleiche Ziel zu erreichen: verschließt man ihr darum auch jeden andern Weg,
wo die Kunst hinwiederum iht nachsehen muß?
Eben der Homer, welcher sich aller stückweisen Schilderung körperlicher
Schönheiten so geflissentlich enthält, von dem wir kaum einmal im Vorbei⸗
gehen erfahren, daß Helena weiße Arme und schönes Haar gehabt; eben der
Dichter weiß demungeachtet uns von ihrer Schönheit einen Beariff zu machen,