Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

460 Neudeutsche Literatur. 
nend vorüber, aber wir ließen sie unbeachtet. Ganz sowie Hamlet, verloren 
wir die Freude an unserer Existenz und flüchteten aus dem realen Leben in 
das Reich der Ideale; wir schadeten dem sichern Takte des instinktiven Lebens 
durch allzuviele Geistesübung und Reflexion und der gewissen Erkenntniß des 
Wirklichen durch Grillen und Phantasien. Ganz so verbitterten wir uns skeptisch 
an Welt und Leben und Menschheit und wühlten uns in Menschenhaß, mit 
so viel Anlage des Menschen Werth zu achten, und in einen passiven Welt— 
schmerz, mit so viel Beruf die Welt thätig zu bebauen. Fühlten wir uns nicht 
Alle in den Selbstgesprächen unserer Literatur stolz in den Errungenschaften 
unseres Geistes, und fanden „den Menschen so Gott gleich, so erhaben, so groß,“ 
ohne gleichwohl, wie Hamlet, Gefallen daran zu haben? Erblicken alle die 
Dräger des Weltschmerzes und die Europamüden nicht ihr schlagendes Abbild 
in dem Manne, der der Zeiten Spott und Geißel, den Druck der Mächtigen, 
die Mißhandlungen der Stolzen, den Aufschub des Rechts, den Uebermuth der 
Aemter, die Fußtritte, die das Verdienst von dem Unwerthe hinnimmt, mit so 
geduldigem Herzen ertrug? Sind ihre Verbitterungen etwas anderes als nur 
ein Echo der kranken Schwermuth, in der Hamlet die Welt für ein Gesängniß, 
die Erde für einen ungejäteten Garten, für ein wüstes Vorgebirge, Luft und 
Firmament für verpesteten Dunst, die Zeit für feist und engbrüstig, und 
Alles in ihr für langweilig, flach, flau und nutzlos ansah und ein Pfui des 
innerlichsten Widerwillens darüber ausspie? Und wie? Indem wir unsere 
Seelen so mit der Verekelung an der Welt verdarben, vergaßen wir nicht ganz, 
wie Hamlet, das Nächste über dem Entferntesten. Wir meinten, jeder Einzelne, 
den Schmerz des ganzen Alls ertragen und sein Heiland und Retter werden 
zu müssen, ohne je an uns Einzelne selber zu denken. Jeder rief mit Hamlet 
sein Weh darüber, daß die Welt aus den Fugen sei, und Jeder meinte sich 
berufen, sie einzurichten! Es ist dem Stumpfen schwer fühlbar zu machen, ob— 
gleich sich's für den Kundigen von selber fühlt: wie in diesem Satz der Grund— 
verderb für Hamlet lag wie für uns! Denn so bilden auch wir uns ein, unsere 
Aufgabe in Literatur und Politik sei in einer weiten Ferne und in einem un— 
bekannten Ganzen und Großen gelegen, und darüber versäumen und verlernen 
wir zu thun, was unser Theil und unsere nächste Aufgabe ist. Dieser Hamlet 
hatte einen nahen und leichten Beruf zu erfüllen, das war eine kleine Welt 
einzurichten; war es ihm dennoch zu schwer, so galt es, zunächst sein eigenes 
Ich in die Fugen zu bringen, und sein eigener Reformator zu werden. Das 
sah er nicht. Und in diesem Falle sind die tausend Reformatoren bei uns. 
Sie dehnen den Verdruß in kleinen Erfahrungen, wie Hamlet, auf die ganze 
Menschheit aus, und einen engen Beruf zum weitesten; der ungeheuerste Egois⸗ 
mus, eine Frucht, die das blos geistige Leben so leicht einträgt, läßt sie Alles 
auf sich selber beziehen, als ob jeder Einzelne der Vertreter der Welt wäre, 
und läßt sie gleichwohl keiner Anforderung genügen. Wenn diese Schwäche ihrer 
selber inne wird, dann kehrt sich Selbstverachtung auch gegen sie, und Hamlet 
höhnt sich selbst, daß solche Kerle wie Er zwischen Himmel und Erde kriechen 
müßten. Auch diesen Zug haben die Repräsentanten unseres deutschen Lebens 
in Literatur und Politik nicht selten verrathen; sie stehen im hellsten Lichte der 
Selbsterkenntniß, wie Hamlet thut, ohne daß dies den geringsten Einfluß auf 
eine Aenderung wirkte. Was die Aehnlichkeit unseres öffentlichen Charakters 
mit Hamlet auf die Spitze treibt: wie ideal und edel Alles was wir in 
Worten und Wesen kundgethan haben, uns bisher kleidete, an einem ersten 
Punkt des Uebergangs von Grundsätzen zu Thaten erschien unsere Volksnatur
	        
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