476 Neudeutsche Literatur—
Es gibt ein lebendigeres Zeugniß über die Völker als Knochen, Waffen
und Gräber, und das sind ihre Sprachen.
Sprache ist der volle Athem menschlicher Seele, wo sie erschallt oder in
Denkmälern geborgen ist, schwindet alle Unsicherheit über die Verhältnisse des
Volks, das sie redete zu seinen Nachbarn. Für die älteste Geschichte kann da,
wo uns alle andern Quellen versiegen oder erhaltene Ueberbleibsel in unauf—
lösbarer Unsicherheit lassen, nichts mehr austragen als sorgsame Erforschung
der Verwandtschaft oder Abweichung jeder Sprache und Mundart bis in ihre
feinsten Wern oder Fasern.
Aus der Geschichte der Sprachen geht zuvörderst bedeutsame Bestätigung
hervor jenes mythischen Gegensatzes: in allen findet Absteigen von leiblicher
Vollkommenheit statt, Aufsteigen zu geistiger Ausbildung. Glücklich die Spra—
chen, welchen diese schon gelang, als jene nicht zu weit vorgeschritten war; sie
vermählten das milde Gold ihrer Poesie noch mit der eisernen Gewalt ihrer Prosa.
Seien alle über den ganzen Erdball gebreiteten Menschen ausgegangen
von einem ersten Paar, folglich die mannigfaltigen Zungen geflossen aus einer
einzigen, oder nicht; sei die weiße, braune oder schwarze Race unter den Him—
melsstrichen von einander ausgeartet oder ihre Abweichung unvereinbar; die
Meinung zählt nur noch geringe Gegner, daß Europas Gesammtbevölkerung
erst im Laufe der Zeiten von Asien eingewandert sei, daß die meisten euro—
päischen Sprachen in unverkennbarer Urverwandtschaft stehen müssen zu einem
großen auch noch heute in Asien wurzelnden Sprachgeschlecht, aus welchem sie
entweder fortgezeugt sind, oder, was weit mehr für sich hat, neben dem sie
auf gleichen Urquell zurückweisen. Einzelne europäische Sprachen scheinen aber
von ihnen abzurücken und auch ihre besondere Wurzel an anderer Stätte Asiens
zu begehren, so daß ihr Zusammenhang mit jenen ungleich ferner und dunkler
aussieht.
Ehemals hat man gestrebt, wie alle alte Geschichte auf die Ueberliefe—
rungen der h. Schrift zu beziehen, so der neuern Sprachen Ursprung in der
hebräischen zu erspüren; seitdem die Kenntniß des Sanskrits geöffnet wurde,
ist volle Einsicht aufgegangen, daß zu ihm und dem Zend unsre europäischen
Zungen in engem Band stehn, von den semitischen weiter abliegen. Viel här—
ter hält es, Eindrücke zu verwinden, die wir von Jugend auf empfangen
haben. Es ist wahr, die gesammte europäische Bildung gründet sich, seit dem
Christenthum, auf die unsterblichen Werke der Griechen und Römer, aber weit
über die ihrem Einfluß gebührende Gerechtigkeit hinaus hat man sich allzu—
lange gewöhnt, Maßstab griechischer und lateinischer Sprachen an alle übrigen
zu legen, beinah jede germanische, slavische, keltische Eigenthümlichkeit zu ver—
kennen und als bloße Trübung jener lautern Quelle anzusehen. Wie wenig,
für sich erwogen und den Gehalt ihrer Denkmäler redlichst angeschlagen, un—
sere Sprachen jene mit vollem Recht klassisch Genannten erreichen; so hat in
der Geschichte alles, auch das Geringere sein Recht und seinen Reiz, und erst
eine ernsthafte Bekanntschaft mit den einheimischen angeblich neueren, an sich
aber gleich alten, der lateinischen oder griechischen bloß verschwisterten Spra—
chen und mit der frischen, unbillig verachteten Rohheit ihres Alterthums un—
sern Forschungen, wenn sie von allen Seiten her gedeihen sollen, die rechte
Freiheit verliehen. Da die Sprache mit dem Glauben, dem Recht und der
Sitte jedes Volkes von Natur eng zusammenhängt, so werden dem, der seinen
Fleiß diesem zuwendet, über die Sprache selbst unerwartete Aufschlüsse daher
entspringen.