Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Die Dichter unserer Zeit. — Auerbach. 5 
Zornesausbruche zu weit gegangen war, bemühte er sich doch, das glückliche 
eheliche Einverständniß wieder herzustellen, und es gelang ihm — 
Wieder ist ein Jahr vorüber, und wir sehen das Ehepaar vor dem— 
selben blanken Zinngeschirr und unter demselben Birnenbaum sitzen, zur fröh— 
lichen Geburtstagsfeier, aber heute liegt kein Kranz von Rosen auf dem 
Vische, ein schöneres, lebendigeres Kennzeichen hält die beiden Eheleute ver— 
bunden. Die Frau hat ein rothwangiges Kind auf dem Arme. Der rahm— 
bedeckte Kaffee und der Butterzopf mundete wiederum vortrefflich, und bei 
den ersten Zügen aus der Pfeife sagte der Mann: 
„Denkst du noch, Mutterle, was wir vor'm Jahr für Narren gewesen 
sind? Haben uns den schönen Tag verdorben wegen des Vogels.“ 
„Ja,“ sagte die Frau, „und du hast mich immer zwingen wollen, ich 
soll sagen, es sei ein Fink und es ist doch eine Grasmücke gewesen.“ 
„Mutterle, was machst du für Sachen? wie kannst du das noch sagen?“ 
rief Meister Huber und die Zornesader schwoll ihm auf der Stirne. 
„Ja, ja, ich will ja sagen, es ist ein Fink gewesen, ja, ja, ein Fink.“ 
„Du sollst's nicht blos sagen, du sollst's auch glauben.“ 
„Glauben? Ja, ja wie du's willst, ja.“ 
„Nein nicht blos weil ich's will, du mußt's einsehen, daß du dich ge— 
irrt hast; oder willst du noch einmal?“ — 
„Nein, ich sag': willst du noch einmal? hast du vergessen, wie du das 
damalige bereut hast? Zu so Etwas kann man einen Andern nicht zwingen, 
ja, man kann sich selber nicht zwingen, etwas zu glauben, was man nicht 
glaubt.“ 
Die Faust Meister Hubers entballte sich und er reichte die Friedenshand 
seiner Frau über den Tisch und sagte: „Aber ich kann mich zwingen, und 
von heute an will ich dir zu lieb annehmen, es ist eine Grasmücke ge— 
wesen.“ 
„Das will ich wieder nicht,“ sagte die Frau. „Das wäre eben so 
wenig Recht von mir, als es von dir gewesen ist. Du müßtest doch im 
Innern denken, es ist ein Fink gewesen.“ 
„Ich sage aber meiner Frau zu lieb anders.“ 
„Das könnt' ich ja eben so gut wie du auch so machen, aber das 
darf nicht sein. Es schadet nichts, wenn zwei über eine Sache verschieden 
denken; wenn eines nur dem Andern glaubt, daß es bei ihm wahr ist, 
dann wird man auch nicht verlangen, daß es anders glauben soll als es 
kann. Es darf Keines vom Andern verlangen, daß es ihm zu lieb heucheln 
soll. Das wäre die ärgste Sünde. Wo's drauf ankommt, Etwas zu thun, 
da kann man sich zwingen: aber zu lieb glauben, kann man nicht, und Gott— 
lob, es sind ja nur Kleinigkeiten, über die wir nicht einerlei Meinung sind. 
Es ist nichts als ein Streit um einen Pfiff. Und es muß dir noch eine 
besondere Freude sein, daß ich dir in derlei Sachen um des Friedens willen 
nicht nachgebe und nicht heuchle. Das wäre ja viel leichter. Du kannst 
daraus abnehmen, daß wenn ich sage: ich bin mit dir einerlei Meinung 
ich es auch gewiß und wahrhaftig bin. Dafür kannst du schon den Streit 
um einen Pfiff drein geben.“ 
„Du bist ein ehrliches Herz,“ sagte Meister Huber, und er hatte Ge— 
legenheit, das sein ganzes Leben lang als Wahrheit zu erkennen, und der 
Streit um einen Pfiff war in den Wind geblafen.
	        
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