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J. A. Chr. Kerner. 
2. Daß ich kargen Schatten nur spende den Wegemüden, darin bin ich 
dir wohl gleich; wie hoch aber stehe ich über dir! — — „Führet doch mein 
Saft die Matten — o wie leicht! — der Heimat zu!“ — gibt dem Geiste 
Schwingen, dem Herzen Begeisterung zu kühnem Auffluge über alles Leid dieser 
Welt — hin zu einer schöneren, idealeren Welt. 
3. — bringe Wonne im Herbste in des Menschen Haus; schaff' ihm eine 
neue Sonne — gedenkt der Wonne bei der Traubenlese. Diese Wonne, sie 
ist dem Winzer die Sonne seines Herzens. Vergleiche, wie Freiligrath in 
seinen „Auswanderern“ der Freuden bei der Weinlese gedenkt: „Nicht mehr von 
deutscher Rebenlese tragt ihr sie heim mit Grün belaubt.“ 
5. „— welchen Frieden schließen meine Bretter ein!“ — es ist das 
Höchste, was des Dichters Herze kennt: der Frieden, die Ruhe — die Selig— 
keit im Jenseits. Vergleiche Kerners: „Wanderer in der Sägemühle“! 
6. „— und Tränen hangen sah ich ihr am Auge licht“ — zu Tränen 
rührt sie der Tanne tief Empfinden. 
. Jüngsthin hört' ich, wie die Rebe 
Mit der Tanne sprach und schalt: 
„Stolze! himmelwärts dich hebe, 
Dennoch bleibst du starr und kalt! 
2. Spend' auch ich nur kargenSchatten 
Wegemüden gleich wie du, 
führet doch mein Saft die Matten, 
O wie leicht! — der Heimat zu. 
4. So, sich brüstend, sprach die Rebe; 
Doch die Tanne blieb nicht stumm, 
Säuselnd sprach sie: „Gerne gebe 
Ich dir, Rebe, Preis und Ruhm. 
5. Eines doch ist mir beschieden: 
Mehr zu laben, als dein Wein, 
Lebensmüde! — welchen Frieden 
Schließen meine Bretter ein!“ 
3. Und im Herbste — welche Wonne 6. Ob die Rebe sich gefangen 
Bring' ich in des Menschen Haus! Gab der Tanne, weiß ich nicht; 
Schaff' ihm eine neue Sonne, Doch sie schwieg — und Cränen hangen 
Wenn die alte löschet aus.“ Sah ich ihr am Auge licht. 
Der Wanderer in der Zägemühle. 
Der Dichter ist mit seiner ganzen Aufmerksamkeit bei der Mühle da unten 
im Tale. Da sitzt er und sieht, wie die Räder so gleichmäßig sich drehen, die 
Wasser so ruhig dahinfließen, da sieht er, wie die blanke scharfe Säge lange 
Wege bahnt in die Tannue — vor kurzem stand sie noch draußen im Forst, 
hren stolzen Wipfel zum Himmel erhebend; nun dem Tode verfallen; ihre 
Bestimmung: ein Schrein zu sein einem Toten zu langer Ruhe. — — 
Solch Schauen, Denken hebt den Dichter hinweg aus dieser Welt; er weilt mit 
seinem Sinnen bei Tod und Jenseits. — Es ist ihm wie ein Traum, und in 
seinem bangen Traume hört er, wie die Szäge — singend, traurig singend — 
den eignen Tod ihm verkündet. „Vier Bretter sah ich fallen“ — mit der 
Tanne ist's zu Ende; „ein Wörtlein wollt' ich lallen“: — — wann, wann ist's 
zu Ende mit mir? „Da ging das Rad nicht mehr“: balde, balde ist's zu 
Ende auch mit dir!
	        
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