„0, die Lügenbrut!" rief der Schneider, „einer so gottlos und pflicht¬
vergessen wie der andere! Ihr sollt mich nicht länger zum Narren
haben!" Und vor Zorn ganz außer sich, sprang er hinauf und gerbte
dem armen Jungen mit der Elle den Rücken so gewaltig, daß er zum
Haus hinaussprang.
Der alte Schneider war nun mit seiner Ziege allein. Am andern
Morgen ging er hinab in den Stall, liebkoste die Ziege und sprach:
„Komm, mein liebes Tierlein, ich will dich selbst zur Weide führen."
Er nahm sie am Strick und brachte sie zu grünen Hecken und unter
Schafgarbe und was sonst die Ziegen gerne fressen. „Da kannst du dich
einmal nach Herzenslust sättigen," sprach er zu ihr und ließ sie weiden
bis zum Abend. Da fragte er: „Ziege, bist du satt?" Sie antwortete:
„Ich bin so satt,
ich mag kein Blatt; meh, meh!"
„So komm nach Hanse!" sagte der Schneider, führte sie in den Stall
und band sie fest. Als er wegging, kehrte er sich noch einmal um und
sagte: „Nun bist du doch einmal satt." Aber die Ziege machte es ihm
nicht besser und rief:
„Wie sollt' ich satt sein?
Ich sprang nur über Gräbelein
und fand kein einzig Blättelein; meh, meh!"
Als der Schneider das hörte, stutzte er und sah wohl, daß er seine
drei Söhne ohne Ursache verstoßen hatte. „Wart!" rief er, „du un¬
dankbares Geschöpf! Dich fortzujagen ist noch zu wenig; ich will dich
zeichnen, daß du dich unter ehrbaren Schneidern nicht mehr darfst sehen
lassen." In einer Hast sprang er hinauf, holte sein Bartmesser, seifte
der Ziege den Kopf ein und schor sie so glatt wie seine flache Hand.
Und weil die Elle zu ehrenvoll gewesen wäre, holte er die Peitsche und
versetzte ihr solche Hiebe, daß sie in gewaltigen Sprüngen davonlief.
2.
Der Schneider, als er so ganz einsam in seinem Hause saß, verfiel
in große Traurigkeit und hätte seine Söhne gerne wiedergehabt; aber
niemand wußte, wo sie hingeraten waren. Der älteste war zu einem
Schreiner in die Lehre gegangen. Da lernte er fleißig und unverdrossen,
und als seine Zeit herum war, daß er wandern sollte, schenkte ihm der
Meister ein Tischchen, das gar kein besonderes Ansehen hatte und von
gewöhnlichem Holz war; aber es hatte eine gute Eigenschaft. Wenn
man es hinstellte und sprach: „Tischchen, deck' dich!" so war das gute
Tischchen auf einmal mit einem saubern Tüchlein bedeckt, und stand da