Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Teil 1, [Schülerband])

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Und ich zauderte noch, auf den zierlichen Teppich zu treten; 
20 Festlich empfing er den Fuß, leise beschritt ich ihn nur. 
Jetzo gelehnt an den Stamm (er trägt das breite Gewölbe 
Nicht zu hoch) ließ ich rundum die Augen ergehn, 
Wo den beschatteten Kreis die feurig strahlende Sonne 
Fast gleich messend umher säumte mit blendendem Rand. 
25 Aber ich stand und rührte mich nicht; dämonischer Stille, 
Unergründlicher Ruh' lauschte mein innerer Sinn. 
Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen Zauber— 
Gürtel, o Einsamkeit, fühlt' ich und dacht' ich nur dich. 
517. Aus „Hermann und Dorothea.“ 
Gohann Wolfgang von Göthe.) 
a) Die Auswanderer. 
Freundlich kamen heran die beiden und grüßten das Eh'paar, 
Setzten sich auf die Bänke, die hölzernen, unter dem Thorweg, 
Staub von den Füßen schüttelnd und Luft mit dem Tuche sich fächelnd. 
Da begann denn zuerst nach wechselseitigen Grüßen 
Der Apotheker zu sprechen und sagte, beinahe verdrießlich: 
„So sind die Menschen fürwahr! Und einer ist doch wie der andre, 
Daß er zu gaffen sich freut, wenn den Nächsten ein Unglück befället! 
Läuft doch jeder, die Flamme zu sehn, die verderblich emporschlägt, 
Jeder, den armen Verbrecher, der peinlich zum Tode geführt wird. 
10 Jeder spaziert nun hinaus, zu schauen der guten Vertriebnen 
Elend, und niemand bedenkt, daß ihn das ähnliche Schicksal 
Auch vielleicht zunächst betreffen kann, oder doch künftig. 
Unverzeihlich find' ich den Leichtsinn; doch liegt er im Menschen.“ — 
Und es sagte darauf der edle, verständige Pfarrherr, 
15 Er, die Zierde der Stadt, ein Jüngling näher dem Manne. 
Dieser kannte das Leben und kannte der Hörer Bedürfnis, 
War vom hohen Werte der heiligen Schriften durchdrungen, 
Die uns der Menschen Geschick enthüllen und ihre Gesinnung; 
Und so kannt' er auch wohl die besten weltlichen Schriften. 
20 Dieser sprach: „Ich tadle nicht gerne, was immer dem Menschen 
Für unschädliche Triebe die gute Mutter Natur gab; 
Denn was Verstand und Vernunft nicht immer vermögen, vermag oft 
Solch ein glücklicher Hang, der unwiderstehlich uns leitet. 
Lockte die Neugier nicht den Menschen mit heftigen Reizen, 
25 Sagt, erführ' er wohl je, wie schön sich die weltlichen Dinge 
Gegen einander verhalten? Denn erst verlangt er das Neue, 
Suchet das Nützliche dann mit unermüdetem Fleiße; 
Endlich begehrt er das Gute, das ihn erhebet und wert macht. 
In der Jugend ist ihm ein froher Gefährte der Leichtsinn, 
30 Der die Gefahr ihm verbirgt und heilsam geschwinde die Spuren 
Tilget des schmerzlichen Übels, sobald es nur irgend vorbeizog. 
Freilich ist er zu preisen, der Mann, dem in reiferen Jahren 
Sich der gesetzte Verstand aus solchem Frohsinn entwickelt,
	        
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