Full text: Geschichte des Altertums (Teil 1)

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nach Attika geschickt. Letzterer faßte nach einigen Treffen gegen 
die Demokraten seine Aufgabe in versöhnendem Sinne auf und 
brachte einen Vergleich zwischen den Parteien in Athen und 
im Piräeus zustande. Es wurde eine allgemeine Amnestie1) er¬ 
lassen, von der nur die Dreißig und ihr nächster Anhang aus¬ 
geschlossen waren, und nach einigen vorübergehenden Maßregeln 
trat im wesentlichen die frühere demokratische Verfassung 
wieder in Kraft. 
II. Die griechische Aufklärung und Sokrates. 
A. Die neue Lehre. 
Die Herrschaft der Dreißig hatte gezeigt, bis zu welchem Grad 
in Athen die Verwilderung des Geistes um sich gegriffen hatte. 
Sie war eine Frucht der sogenannten Aufklärung, der „neuen 
Bildung.“ Der Kern dieser neuen Richtung, die nach der Mitte 
des fünften Jahrhunderts auf einige Jahrzehnte einen bedeutenden 
Einfluß auf die Geister, namentlich in Athen, zu gewinnen wußte, 
bestand in der Leugnung aller festen sittlichen Grundsätze, in der 
Behauptung, daß es etwas objektiv Gutes oder Schlechtes nicht 
gebe, daß die Entscheidung darüber, was gut oder schlecht, durch¬ 
aus dem Belieben jedes einzelnen Subjektes anheimgegeben sei. 
Das ist der Sinn des bekannten Ausspruches: „Der Mensch ist sich 
selbst das Maß für alle Dinge“2). Darum hängt es nicht von der 
Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern lediglich vom Belieben 
des Subjektes und seiner Geschicklichkeit in der formalen Beweis¬ 
führung ab, das Gute als schlecht oder das Schlechte als gut er¬ 
scheinen zu lassen3). 
Die Lehrer solcher und ähnlicher Sätze nannten sich selbst 
„Weise“, „Sophisten“. Im Gegensatz zum bisherigen Brauch 
priesen sie ihre Wissenschaft um Geld an, und sie fanden reichen 
Lohn und vornehme, begabte Schüler. Die hervorragendsten Ver¬ 
treter der neuen Richtung waren Protagoras aus Abdera, der 
schließlich aus Athen wegen Atheismus ausgewiesen ward, und der 
Redekünstler Gorgias aus Leontini. 
B. Die Einwirkung- der neuen Lehre auf die Literatur. 
Eine ganze Reihe von Schriftstellern der Zeit zeigt die Ein¬ 
wirkung der Sophistik, wenn auch nicht immer im Gedankeninhalt, 
*) Äßvrjozia, von d und ixifivjjoxuv, = Vergessenheit für das Geschehene. 
2) nüvrwv ZQrjßdvav (xezgov äv&Qcojiog, zCov fikv övzov, öjg eozi, zöyv 
de in) ovzcov, &g ovx eoziv. 
3) Töv fjzzct) Xöyov xgeizzovct noielv.
	        
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