36. Die Gletscher der Alpen.
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fallenden Regen auf und verdichtet fich endlich zu Glets chereis, das fester,
massiger, schwerer ist als das Firneis. Eingeklemmt in tiefe Gebirgsschluchten
folgt der Gletscher den Windungen derselben gleich einem Strome, trägt Lasten
herabgestürzter Steine auf seinem Rücken fort, zerbricht in Scherben, wo er
über einen Gebirgsriegel zu fließen gezwungen ist, und zerschmilzt endlich in
der wärmeren Luft des Thales, Bäche eiskalten Wassers entsendend.
Das Eis des Gletschers ist von dem Eise, das sich im Winter auf unseren
stehenden und fließenden Gewäffern bildet, wesentlich verschieden. Es ist matter,
blasiger und namentlich von feinen Spalten (Haarspalten) durchzogen. Dieses
reiche Adernetz von Haarröhrchen ermöglicht das Durchsickern des Wassers und
trägt nebst dem körnigen Gefüge des Gletschereises viel dazu bei, dasselbe in
eine bis zu einem gewissen Grade bildsame Masse umzuwandeln. Gefärbte
Flüssigkeiten, die auf dem Gletscher in ausgehauene Gruben ausgegossen wurden,
drangen durch die Haarspalten bis zu einer Tiefe von 10 m in das .Eis des
Gletschers ein. In den Spalten und Schründen des Gletschers, in Höhlungen
und Tuuuelu, die künstlich in denselben getrieben wurden, erscheint das
Gletschereis in einem prachtvollen Blau, und Personen, die an solchen Stellen
in das Innere des Gletschers eintreten, werden in wahrhaft magischer Weise
von einem tiefblauen Lichte Übergossen, das alle anderen Farben tötet oder
wenigstens abschwächt. Ein Stückchen Eis jedoch, das aus einer solchen Eis-
grotte an das Tageslicht gebracht wird, hat nun seine herrliche Färbung ver-
loren und erscheint farblos durchfichtig wie jedes andere Eisgebilde.
Oft steht der Wanderer, der einen Gletscher überschreitet) staunend vor
einem Trümmergewirre von Eisstücken, einem wilden Klippen- und Zackenmeere.
Besonders auffallend find jene emporgezackten, riesigen Eissplitter, die man
Gletschernadeln ueuut. Ursprünglich Gletscherscherben und Gletscherbrüch-
linge, verdanken sie ihre scharfen Spitzen der abschleifenden und aushöhlenden
Kraft, mit welcher Sonne, erwärmte Luft, Regen und Frost auf sie einwirken.
Dnrch Spalten, die oft bis zu bedeutender Tiefe hinabgehen, wird eine
Gletscherwanderung immer gefährlich. Können dieselben nicht übersprungen
werden, so muß man sie zu umgehen suchen. Bei eintretendem Schneefalle wölben
fich über die Spalten trügerische Schneebrücken, die mit der Zeit unter der
wechselnden Einwirkung von Sonne und Frost allerdings sich soweit festigen,
daß man darüber hinwegfchreiten kann. Doch pflegen an solchen Stellen sich
Führer und Touristen in einem Abstände von sechs bis acht Schritten durch
ein Seil miteinander zu verknüpfen. Ein Hinabstürzen in Spalten ist keine
seltene Erscheinung. Am Groß-Venediger brach einst ein Student durch eine
Gletscherbrücke, stürzte 30 m tief hinab und blieb dort zwischen den Wänden
des Gletschers eingeklemmt. Er hätte gerettet werden können, wenn man ein
Seil gehabt hätte. Als man nach vielen Stunden mit einem solchen herbei-