Full text: Deutsche Geschichte von der Thronbesteigung Friedrichs des Großen bis zur Gegenwart (Teil 3)

368 Neunter Zeitr. Von d. Wiederherstellung d. Deutschen Reiches bis z. Gegenwart. 
o) Der Beginn der Steuerreform. Entsprechend der sozialpolitischen Gesetz- 
gebung des Deutschen Reiches wurde auch in Preußen der Weg sozialer Reformen 
beschritten. Da die ärmeren Klassen die direkten Steuern besonders drückend 
empfanden, so wurden die beiden untersten Stufen, welche die Einkommen bis 
900 Mark umfaßten, ausgehoben (1883). Der Abschluß der Steuerreform durch 
die allgemeine Entlastung der kleineren und stärkere Heranziehung der größeren 
Einkommen erfolgte erst unter der Regierung Wilhelms II. 
k) Wilhelms I. Persönlichkeit und Ende. Wilhelm I. war eine hoch¬ 
gewachsene, ritterliche Erscheinung. Ein kräftiger Bart, der nur das 
Kinn frei ließ, schmückte das runde Antlitz. Milder Ernst lag auf feinen 
Zügen. Der Kaiser liebte eine einfache Lebensweise; als echter 
Soldat schlief er stets in einem Feldbett. 
Ohne die glänzenden Geistesgaben seines Bruders zu besitzen, hatte 
er vor diesem den scharfen Blick für politische und militärische Ver- 
Hältnisse und den entschlossenen Willen voraus, das klar Erkannte 
auch durchzuführen. Vor allem verstand er es, die rechten Männer auf 
den rechten Platz zu stellen. Treue Pflichterfüllung, das Erbteil 
der Besten seines Hauses, sah man in ihm verkörpert. Noch auf feinem 
Sterbebette wies er die Bitte feiner Angehörigen, sich zu schonen, mit den 
Worten zurück: „Ich habe keine Zeit, müde zu sein." Im Frühjahre 
nahm die Besichtigung der Gardetruppen mehrere Wochen in Anspruch. 
Sie schloß mit der großen Heerschau auf dem Tempelhofer Felde 
bei Berlin. Bei diesem Anlasse trafen stets, wie am Geburtstage des 
Kaisers, deutsche und fremde Fürstlichkeiten in großer Zahl ein, alle als 
Gäste des Berliner Hofes, der jetzt den Mittelpunkt des monarchischen 
Europas bildete. Im Herbste fanden die sog. Kaisermanöver statt. 
Noch als fünfundachtzigjähriger Greis folgte der Kaiser den Übungen 
der Truppen hoch zu Roß, und erst in den letzten Jahren seines Lebens 
benutzte er einen Wagen. 
In den ersten Zeiten des neuerstandenen Reiches unternahm Wil- 
Helm I. zur Befestigung des europäischen Friedens mehrere große Reisen, 
so nach St Petersburg, Wien und Mailand. Als einen Teil feiner 
Herrscherpflicht betrachtete der Kaiser es auch, bei nationalen Festfeiern, 
wie der Enthüllung der Siegessäule auf dem Königsplatze zu Berlin 
(1873) und des Hermannsdenkmals (1875), der Vollendung des 
Kölner Domes (1880), der Grundsteinlegung (1877) und der Ent¬ 
hüllung des Niederwalddenkmals (1883), zu erscheinen und einige 
weihevolle Worte zu sprechen. 
Zu all den glänzenden Erfolgen seiner Regierung war dem Kaiser 
ein seltenes Familienglück beschieden.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.